Nilesh kam ab und zu an ihren Kochplatz und sah, dass sie mehr als gut klar kam. „Wow, Meera. Man könnte meinen, du bist Köchin.“
Sie lachte fröhlich. „Ich habe mal in einer Küche geholfen, ja.“
„Geholfen?“ Nilesh lachte. „Du kochst wie ein Profi.“
„Ich liebe es einfach.“
Er sah sie neugierig an. In diesem Moment nahm sie Nilesh zum ersten Mal wirklich wahr. Seine feine Erscheinung, seinen Blick für das Wesentliche, seine Freundlichkeit und seine Attraktivität. Er trug das gleiche Outfit wie Bikram, war aber größer, schlanker und männlicher. Meera schätzte ihn auf Mitte dreißig. Doch irgendetwas an ihm wirkte älter, reifer, gelassener, als bei anderen Männern dieses Alters.
„Ich liebe es auch...“, sagte er nachdenklich und von ihren Worten offenbar tief berührt. Sie ahnte, dass hinter diesen vier Worten eine Geschichte mit Höhen und Tiefen, Freude und Leid stand. Ganz automatisch berührte sie ihn am Arm, um ihr Mitgefühl auszudrücken und ihm zu zeigen, dass sie wusste, dass das Leben auch leidvoll sein konnte. Sie standen einige Sekunden so da, bis Meera plötzlich das Gefühl hatte, dass das alles viel zu intim, viel zu vertraut war. Sie zog ihre Hand von seinem Arm und rührte in ihrem Kochtopf, um nicht stante pede davonzulaufen und sich lächerlich zu machen. Wenn Nilesh ihre Furcht spürte, ließ er es sich nicht anmerken. Er ging hinüber zum nächsten Kochschüler, widmete sich allen Fragen, assistierte und gab wie versprochen den ein oder anderen Geheimtipp preis.
Die Zeit raste, und drei Stunden später stand tatsächlich das gesamte Essen auf einem großen Tisch hinter der Küche. Sie deckten gemeinsam und unterhielten sich angeregt. Aus Fremden waren in der kurzen Zeit Bekannte geworden. Die gemeinsame Arbeit hatte sie verbunden.
Bikram brachte Getränke, Wasser, Softdrinks und Chai , den man zu den Nachspeisen trank und schon saßen alle an der großen Tafel und blickten erwartungsvoll auf ihren hervorragenden Lehrer, Chef Nilesh.
„Ich finde, das haben wir großartig hingekriegt. Danke, dass ihr so aufmerksam und mit Freude bei der Sache ward.“
Die Gruppe klopfte auf den Tisch. Robert, einer der Männer, ergriff das Wort. „Danke, Nilesh. Danke, Bikram. Ihr habt uns einen unvergesslichen Nachmittag und einen tiefen, authentischen Einblick in den Zauber der indischen Küche geschenkt.“
Wieder klopften alle auf den Tisch.
„Lasst es euch schmecken. Das ist euer Werk!“, sagte Nilesh.
Das Essen schmeckte himmlisch. Die Pakoras waren goldgelb und knusprig. Und obwohl sie nicht mehr ganz warm waren, schmeckten sie mit einem minzig, scharfen Joghurtdip fast göttlich. Der Papayasalat hatte genau die richtige Schärfe und eine leichte Säure, die am Gaumen kitzelte. Meera genoss jeden Bissen. Ihr Dal Makhani war extrem cremig und brachte ihr Lob von allen ein. Nilesh sah sie begeistert an, und sie freute sich sehr über sein stilles Lob. Das Paneer Korma hatte eine leichte Süße, die die Schärfe der grünen Chilis, die sie verwendet hatten, überdeckte, aber nicht auslöschte. Das fluffige, warme Naan schmeckte fantastisch dazu, aber auch der luftige Basmatireis.
Meera war eigentlich schon satt. Dennoch probierte sie die Mangocreme, die gänzlich ohne Süßungsmittel auskam. Die Süße der Mango reichte aus, um sie zu einem perfekten Sommerdessert zu machen. Und das Möhrenhalwa weckte, ähnlich wie das Khir , das sie neulich probiert hatte, unendlich viele Erinnerungen an ein Leben, das sie unwiederbringlich verloren hatte. Ein Leben, das Gott sei Dank vorbei war. Und doch war es noch immer, selbst heute an diesem schönen, unbeschwerten Tag, als wäre sie einen Tod gestorben, den sie nicht hatte sterben wollen. Mit ihren Illusionen war ein Teil ihres Selbst gegangen, der ihr lieb und wichtig gewesen war. Sie wollte sich so gerne einreden, dass dieser Tod eine notwendige Transformation gewesen war, aber er fühlte sich ganz anders an. Es war, als sei der Teil von ihr gestorben, der offen für Neues war, der Vertrauen und Nähe zulassen konnte; der Teil, der zum Leben am wichtigsten war.
∞
Obwohl es schon dunkel war, lief Meera langsam und nachdenklich am Strand entlang zu ihrem Bungalow. Der Sand unter ihren Füßen war noch warm und auch das Meer. Sie ging barfuß durch die sanft ausrollenden Wellen, atmete tief ein und aus – so tief und entspannt wie lange nicht. Gleichzeitig schwappte eine Welle des starken, grundlosen Glückes über sie und löste große Dankbarkeit in ihr aus. Etwas geschah mit ihr, hier in Goa. Sie konnte es täglich deutlicher spüren. Es war, als würde die Last des Leidens endlich leichter und erträglicher. Konnte sie wirklich hoffen, eines Tages gänzlich von ihr befreit zu sein?
In dieser Nacht schlief Meera so tief und so gut wie seit Jahren nicht. Der Schlaf brachte endlich wieder Erholung und keine sich endlos wiederholenden Gedanken- und Gefühlsschleifen, die sie stundenlang wach hielten. Gegen Morgen, als die ersten Vögel im Cozy Yoga Resort bereits zu zwitschern begannen, träumte sie von Pavitra Nagar . Sie war wieder dort, wie in unendlich vielen Nächten seit ihrer Flucht. Diesmal kam sie als Gast zu einer Veranstaltung, zu der die Leute aus der ganzen Welt herbeiströmten. Die Stimmung war erwartungsvoll, ausgelassen, fröhlich und ehrfürchtig. Alle glaubten, Teil von etwas Besonderem, von etwas Heiligem zu sein. Wie immer war alles perfekt organisiert und inszeniert. Kein Detail blieb dem Zufall überlassen. Alles war seit Monaten geplant und vorbereitet worden. Meera bewegte sich frei und unbehelligt im Ashram. Aber sie war nicht mehr unwissend. Sie war die Meera von heute, die die Schatten dieses Ortes und seiner Bewohner genau kannte. In ihr war keine Wut. Auch spürte sie keine Trauer. Sie sah sich alles genau an, von dem ganzen Zirkus unberührt. Sie spürte, dass sie nicht mehr Teil der Gemeinschaft, aber auch nicht mehr Teil des Glaubenssystems, der Ideologie war, die sie einst mitgerissen und völlig durchdrungen hatte.
Fast fünfhundert Menschen saßen zum Satsang in der großen Halle, in der Janaka von der Großartigkeit des spirituellen Lebens und von der wichtigen Aufgabe, die sie alle für die Evolution der Menschheit und des Planeten hatten, fabulierte. Meera wusste nicht, wie oft sie diese Geschichte gehört hatte. Gleich würde er von seinem Guru erzählen, von dem Tag, an dem er den Schleier der Unwissenheit von seinem Bewusstsein genommen und ihm das höchste, das reine Bewusstsein enthüllt hatte.
Meera stand an der Tür und betrachtete die „Hypnotisierten“, wie sie Janakas Anhänger in den Jahren vor ihrer Flucht bereits genannt hatte. Er war ein hervorragender Redner, ein gefährlicher Demagoge, der mit Worten verführte und mit den Sehnsüchten und Ängsten der Menschen spielte. Alle, die hier saßen, glaubten ihm jedes Wort. Alle hofften, dass er ihnen genau das geben würde, was sein Guru ihm einst angeblich gegeben hatte. Meera hatte diese Geschichte nie geglaubt. Sie wollte sich gerade abwenden und gehen, da traf sie sein kalter, durchdringender Blick. Er erkannte sie sofort, und sie spürte seinen ganzen Hass. Das Schlimmste, was sie ihm hatte antun können, war, sich gegen ihn zu wenden. Das würde er ihr niemals verzeihen. In seinen Augen hatte sie ihn und seine Sache verraten. Nichts war ihm wichtiger als seine Mission. Nur für sie lebte er. Wahrscheinlich hätte er es hingenommen, wenn sie ihn persönlich zurückgewiesen hätte. Sie wäre ersetzbar gewesen. Sie war ohnehin nie seine einzige Geliebte gewesen, obwohl er immer behauptet hatte, dass sie seine Seelengefährtin, seine Zwillingsflamme, sei. Lügen und Täuschung waren das Geschäft, das er am besten verstanden hatte. Nein, sein Hass traf sie, weil sie sein Lebenswerk zerstört hatte; alles, wofür er gelebt hatte. Meera kannte ihn so gut, dass sie ihn verstand. Sie fühlte sogar mit ihm. Er hatte viel verloren, mehr als sie. Aber nicht wegen ihr, sondern wegen sich selbst. Er hatte andere benutzt und verletzt, sie belogen und betrogen. Sie war nur als Einzige nicht mehr bereit gewesen, dieses Verhalten zu tolerieren, und sie hatte andere vor ihm schützen wollen.
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