Ihr Blick fiel auf einen einfachen Stuhl. Sie zog ihn heran und setzte sich. Die Handtasche stellte sie auf ihre Oberschenkel und hielt sich mit beiden Händen daran fest.
Hoffmann las den Brief. Er ließ sich dafür ungewöhnlich viel Zeit. Dann legte er ihn auf seinen Schreibtisch und nahm den Aktenordner in die Hand. Er öffnete den schwarzen Deckel, löste die Klammer und nahm das oberste Blatt heraus. Auch das betrachtete er noch einmal ausgiebig, legte es dann vor sich ab und sah zu ihr auf.
»Seit über viereinhalb Jahren kämpft nun das deutsche Volk in ganz Europa um einen angemessenen und den ihm zustehenden Platz in dieser Welt. Das internationale Judentum hat es wieder einmal geschafft, dass wir in einen Weltkrieg gezogen wurden, der eine Unmenge besten und jungen Blutes kostet und für den schon viele deutsche Männer ihr Leben gelassen haben. Damit dies endgültig nie wieder vorkommen wird, hat die nationalsozialistische Partei sich zum Ziel gesetzt, den Juden und anderen Feinden des Landes ...« Er stockte für einen Moment, dann fuhr er fort: »... sagen wir mal so, die Möglichkeit zu nehmen, jemals wieder ihr zerstörerisches Werk zuungunsten Deutschlands durchführen zu können. Die Juden werden umgesiedelt und ihre Zahl wird unter Kontrolle gehalten.« Er schmunzelte um die Mundwinkel, als er die letzten Worte mit einer besonderen Betonung aussprach. »Und wissen Sie was, Frau Friedel?«
Elisabeth schüttelte den Kopf und öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton heraus. Und wieder hatte sie das Gefühl, dass man ihr die Luft abdrückte.
Hoffmann ließ sie noch etwas in ihrer Beklemmung schmoren. Offensichtlich genoss er es, dann lehnte er sich in seinem Sessel zurück und fuhr in absoluter Ruhe fort. »Wir sind hier in Deutschland eigentlich schon fast fertig mit unserer Aufgabe. Die letzten Juden aus dem Reich werden in den nächsten Monaten aufgefordert, sich für die Umsiedlung bereitzuhalten. Dann haben wir unser Land gereinigt und damit eine lebenswerte Basis für das Volk und seine Zukunft geschaffen. Und dann haben wir auch die Zeit, uns um diejenigen Fälle zu kümmern, die nicht ganz die Reinheit in sich tragen, die der Führer als das Minimum für das Wohl des deutschen Volkes festgelegt hat.«
Er richtete sich in seinem Sessel auf, lehnte sich mit beiden Unterarmen auf den Tisch und nahm das Papier in die Hand, das er zuvor aus dem Ordner geholt hatte. Er starrte sie an und wartete.
»Ich verstehe nicht ganz, worauf Sie hinauswollen«, brachte Elisabeth nach einiger Zeit mit zitternder Stimme hervor. Sie war völlig durcheinander und kaum in der Lage, einen halbwegs klaren Gedanken zu fassen. In ihrem Kopf schwirrten Erzählungen umher, die sie über das Schicksal der Juden gehört hatte. Grausame Geschichten, die sie kaum in Worte fassen konnte. Und damit wollte man sie nun in Zusammenhang bringen?
»Warum erzählen Sie mir das alles? Warum haben Sie mich her befohlen?«, stammelte sie undeutlich.
»Es gibt viele Feinde Deutschlands, Juden und andere, die sich durch Falschaussagen dem Zugriff entziehen und das mit dem Ziel, zu einem späteren Zeitpunkt unsere Macht im Reich durch ihre verbrecherischen Tätigkeiten zu schwächen. Und das wollen wir natürlich verhindern, Sie verstehen?«, fragte er arrogant und zog dabei erneut die Mundwinkel nach oben. Seine blauen Augen funkelten in den kalten und markanten Umrissen seines Gesichts und jede Freundlichkeit und Wärme war jetzt verschwunden. Er zögerte bewusst noch einige Sekunden, bevor er fortfuhr.
»Frau Friedel. Es gibt hier ein paar Ungereimtheiten, die wir dringend klären müssen.«
»Was denn für Ungereimtheiten?«, stotterte sie unsicher und ihr Blick fischte dabei nach dem Papier, das er in der Hand hielt, in der Hoffnung, dort die ersehnte Antwort zu finden. Doch aus ihrer Position heraus war das nicht möglich.
»Bei der Untersuchung der Abstammung ihrer Familie sind wir auf ein Papier gestoßen, das uns dazu veranlasst hat, Sie herzubitten.«
»Was denn für ein Papier?«
Er ging auf ihre Frage nicht ein.
»Ihre Mutter hieß doch Wilhelmine Bernhard?«
Sie nickte.
»Bis zu ihrem Tod wohnhaft in der Nürnberger Str. 17?«
Sie nickte erneut.
»Gestorben am 14. Januar 1938 in Dresden?« Er sah zu ihr auf, aber sie antwortete nicht.
»Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte sie im Gegensatz, doch auch er ignorierte ihre Frage. »Was ist ...«, sie verbesserte sich, »... war mit meiner Mutter?«
»Wie ich vorhin schon sagte, gibt es Menschen, die sich durch Falschaussagen und mit falschen Dokumenten einen arischen Nachweis besorgen, um sich so unserem Zugriff zu entziehen. Und um es kurz zu machen. Bei den Untersuchungen zu ihrer Mutter haben wir festgestellt, dass sie jüdische Vorfahren hatte. Was wiederum bedeutet, dass auch Sie jüdisches Blut in sich tragen.«
Elisabeth sah ihn fassungslos an. Mit weit geöffnetem Mund saß sie auf ihrem Stuhl. Beide Hände umklammerten die Tasche und die Finger bohrten sich in das braune Leder. Sie brachte keinen Ton heraus und starrte den Mann einfach nur an. Es dauerte eine ganze Weile, dann stammelte sie: »Das ist nicht möglich!« Ihr Hals war trocken und die Worte kamen nur undeutlich über ihre Lippen. Sie schluckte schwer. »Das kann nicht sein. Wir haben umfangreiche Untersuchungen über uns ergehen lassen müssen, als es darum ging, ob mein Mann nach Peenemünde kann. Und damals war alles in Ordnung. Wo soll jetzt plötzlich das Dokument herkommen?«
»Die genauen Details werden gerade noch geklärt, die Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen.«
»Das kann nicht sein«, wiederholte sie. »Ich glaube das nicht.« Elisabeth zögerte. Unerwartet spürte sie eine innere Energie aufkommen. Dann warf sie ihrem Gegenüber vor: »Sie lügen mich an, es kann gar nicht anders sein.«
Hoffmann hatte während des bisherigen Gesprächs eine überhebliche Lässigkeit an den Tag gelegt. Besonders in der Art, wie er auf seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch saß und der speziellen Tonlage, die er in seine Sätze legte. Dagegen veränderte sich nun sein Ton schlagartig. Erbost richtete er seinen Oberkörper auf und mit kräftiger Stimme erwiderte er: »Ich verbitte mir solche Anschuldigungen. Wir haben hier ein offizielles Dokument zur Abstammung ihrer Mutter und die Quelle ist absolut zuverlässig. Sie haben versucht, uns ihre wirkliche Herkunft zu verheimlichen. Darum geht es hier. Und wir sind Ihnen auf die Schliche gekommen.«
»Dann wissen Sie also doch schon mehr über die Details, als Sie vorhin zugegeben haben«, fiel ihm Elisabeth nun fast ebenso deutlich ins Wort. »Ich will sofort wissen, woher Sie dieses Dokument haben und wer so etwas behauptet?«
Ganz überraschend hatte sich Elisabeth gefangen und trat nun mit einem vor wenigen Sekunden noch völlig unvorstellbarem Selbstbewusstsein auf.
Hoffmann war von ihrem plötzlichen Wandel sichtlich überrascht.
»Frau Friedel«, begann er beschwichtigend und versuchte zu seiner ursprünglichen Lässigkeit zurückzukehren, was ihm aber nicht ganz gelang. »Beruhigen Sie sich wieder. Schauen Sie. Es ist nun mal unsere Aufgabe, die Abstammung der deutschen Volksgenossen zu prüfen. Und wenn wir auf so ein Dokument stoßen«, und dabei wies er auf das Papier, das er noch immer in Händen hielt, »dann müssen wir der Sache nachgehen.«
Seine Stimme wurde ruhiger und verfehlte ihre Wirkung auf Elisabeth nicht. Ihre Erregung ließ nach und die Spannung wich aus ihrem Körper. Langsam sanken ihre Schultern nach unten.
»Wir müssen einfach der Sache nachgehen«, fuhr er in einer, gegenüber vorhin, jetzt schon fast extrem leisen Tonlage fort. »Von so einem Dokument ist ja nicht nur die Person betroffen, die darauf aufgeführt ist. Im Endeffekt geht es dabei auch um die Nachkommen. Wenn ihre Mutter Jüdin war, dann sind Sie es und ihre Kinder auch.«
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