Zufrieden fuhr Sonja nach Hause und fand Eduards Wagen vor der Tür. Als sie in die Wohnung kam, saß er maulend auf der Couch. „Wo steckst du denn so lange, seit einer Stunde sitze ich hier und warte auf dich. Und für wen hast du dich so schön gemacht?“, meckerte er, ohne wie sonst sein Vierländer Platt hochdeutsch einzufärben. „Guten Morgen, mein Lieber, schönen Dank für die unfreundliche Begrüßung“, antwortete sie ironisch, „immerhin habe ich noch einen Beruf, mit dem ich Geld verdiene. Ich war in Lauenburg und habe meine Arbeit abgegeben, an der ich zwei Wochen gebastelt habe. Und im Übrigen muss ich hier nicht nur sitzen und darauf warten, dass du irgendwann mal geruhst, Zeit für mich zu haben!“ Die letzten Worte hatte sie ziemlich heftig gesagt. „Was ist denn mit dir los, ist etwas passiert?“ fragte der Mann irritiert.
„Ja, es ist ziemlich viel passiert in den letzten Tagen“, sagte Sonja, immer noch erregt. „Freitag war Jannik hier, er hatte die Wohnung über deine Firma heraus bekommen, und wir haben uns wieder fürchterlich gestritten. Nachdem ich ihn wütend vor die Tür gesetzt habe, ist er auf der Straße von einem wilden Porschefahrer angefahren und schwer verletzt worden. Ich habe den Krankenwagen angerufen und ihn ins Johanniter-Krankenhaus bringen lassen, wo seine Mutter arbeitet. Samstag konnte ich ihn mit Melanie besuchen. Ich habe zu seiner Mutter immer noch ein gutes Verhältnis und sie hat ihren Sohn überhaupt nicht in Schutz genommen, aber mir klar gemacht, dass es Unrecht war, die Wohnung auszuräumen. Ich wollte es ja auch gar nicht, aber ihr habt mich regelrecht überrumpelt. Und Melanie fiel gleich über ihren Vater her und küsste ihn, soweit das mit seinen Verbänden möglich war. Da ist mir klar geworden, dass ich zumindest sie nicht von ihm trennen darf.“
„Und wie ist es mit dir, willst du dich auch nicht mehr von ihm trennen“, fragte der Mann lauernd. „Ich weiß jetzt überhaupt nicht, was ich will. Bei dem Besuch habe ich noch etwas für Jannik gefühlt, was ich längst verschüttet glaubte, vielleicht war es nur Mitleid, ich weiß es wirklich nicht. Und er hat gesagt, dass er bereit ist, sein Berufsleben umzustellen, weil er mich noch liebt. Das ist im Augenblick alles zu viel für mich, die Arbeit für Lauenburg hat mir auch gar keine Zeit gelassen, darüber nachzudenken.“ „Wenn du irgendwann mal weißt, was du willst, kannst du mir ja Bescheid sagen“, polterte Eduard und schlug die Tür hinter sich zu.
Sonja saß wie versteinert auf der Couch. Bisher hatte sie Eduard als einen feinfühligen Mann kennen gelernt, der immer sehr um sie besorgt war und ihr die Tage schön machte, wenn Jannik verreist war. Die Liebe mit ihm hatte sie letztlich die frühere körperliche Gemeinschaft mit ihrem Mann völlig vergessen lassen. Und nun benahm er sich wie die Axt im Walde, nur weil sie ihm von Jannik erzählt hatte. Sollte sie sich so in ihm getäuscht haben, er war ja keinen Deut besser als ihr Mann. Jedenfalls machte ihr sein Verhalten die Entscheidung noch schwerer, die sie irgendwann treffen musste. „Wenn es so mit ihm weiter geht, werde ich mich von ihm trennen, so schön seine Liebe ist. Für solche Behandlung bin ich mir zu schade“, dachte sie. „Aber will ich dann wieder mit Jannik und seiner primitiven Erotik zusammen leben, vielleicht auch wieder mit ständigem Streit? Nein, da bleibe ich lieber mit Melanie alleine und lasse sie gelegentlich den Vater besuchen. Für die Liebe werde ich wohl ab und zu jemanden finden. Aber wenn Jannik sich dann scheiden lässt, bekomme ich nur Unterhalt für Melanie und muss von meinen unregelmäßigen Aufträgen leben, während Jannik gut verdient. Mensch, ist diese Beziehungsscheiße kompliziert!“ Sie sah, dass sie im Augenblick zu keiner Lösung kam und ging vor die Tür, um einen klaren Kopf zu bekommen.
Im Briefkasten fand sie einen Brief ihres Anwalts Dr. Gollusch, der ihr die Forderungen von Janniks Anwältin mitteilte:
- Ihr Mann als Mit-Erziehungsberechtigter habe das Recht, seine Tochter einmal wöchentlich zu sehen und jedes zweite Wochenende bei sich zu haben. Wesentliche Entscheidungen für das Kind dürfe sie nur im Einvernehmen mit ihm treffen.
- Sie habe nicht die ganze Wohnung ausräumen, sondern höchstens die Hälfte des Mobiliars mitnehmen dürfen. Den Rest müsse sie umgehend zurückgeben.
- Zur Klärung der Unterhaltsansprüche müsse sie ihre Steuerbescheide der drei letzten Jahre vorlegen, da ihr Einkommen von ihren Forderungen abgezogen werde.
„Ich habe gewusst, dass wir nicht im Recht waren, die beiden Männer haben mich regelrecht eingeseift“, dachte sie verärgert. Doch die Uhr zeigte ihr, dass sie sich um das Mittag kümmern musste.
Zur selben Zeit hörte auf der inneren Station des Johanniter-Krankenhauses eine Schwester ein gurgelndes Stöhnen aus Janniks Zimmer und öffnete die Tür. Der Patient lag auf der Seite und das ganze Bett war voller Blut. Sie bekam einen Mordsschreck und gab den Alarmruf ab. Ein Arzt erschien und rief: „Der Patient muss sofort operiert werden, lassen Sie einen OP vorbereiten und schaffen Sie ihn dorthin. Versuchen Sie auch, seine Mutter zu finden, ich kümmere mich um einen Operateur und Anästhesisten.“ Maria Wieland war gerade bei einer Operation und nicht abkömmlich, so musste eine andere Operationsschwester einspringen.
Im OP stellten die Ärzte fest, dass eine der gebrochenen Rippen sich gelöst und quergestellt, dabei die Lunge verletzt und die Operationswunde aufgebrochen hatte. Der betroffene Lungenflügel war zusammengefallen. Die Operation vom Freitag musste zum größten Teil wiederholt, der erhebliche Blutverlust ersetzt und der Patient in ein künstliches Koma gelegt werden, um Bewegungen auszuschließen. Noch während sie dabei waren, erschien Maria im OP, doch sie konnte nur zuschauen, weil die Beteiligten während einer Operation nicht gewechselt werden dürfen. So ging sie hinaus und rief Sonja an, dass ein Besuch vorläufig nicht möglich sei, weil Jannik wegen eines lebensgefährlichen Rückfalls länger in der Intensivstation bleiben müsse. Sie merkte ihr deutlich ihre Betroffenheit an. Nach der Operation saß sie am Bett ihres Sohnes und schickte ein Gebet zum Himmel.
Die Nachricht von Janniks Rückfall verschlimmerte Sonjas Gedanken, plötzlich fühlte sie echte Sorge um ihren Mann. Beim Essen berichtete sie der Tochter vom Rückfall, worauf der wieder die Tränen in die Augen schossen. „Aber er muss doch nicht sterben?“, schluchzte sie, worauf die Mutter sie beruhigte: „Oma Maria wird sicher gut auf ihn aufpassen.“ „Aber ich bin traurig, dass wir ihn jetzt eine Weile nicht besuchen können, ich hab‘ ihn doch lieb“, fuhr das Mädchen fort und Sonja musste sich auf die Zunge beißen, um den Gedanken „mir geht es doch genauso“ nicht auszusprechen, der ihr in diesem Moment in den Sinn kam: „Wie komme ich zu solchen Gedanken?“, fragte sie sich verwundert, als sie Melanie an die Schularbeiten schickte und sich mit ihrem nächsten Auftrag vertraut machte.
Am Nachmittag rief ihr Vater an und fragte in seinem üblichen Platt, ob sie mal vorbeikommen könne, sie hätten mit ihr zu reden. Sie wusste, worauf das hinaus lief und antwortete kurz auf hochdeutsch, der Weg von ihnen zu ihr sei ebenso weit wie der umgekehrte. „Wir sind immerhin noch deine Eltern“, brüllte der alte Herr ins Telefon. „Und ich bin eine erwachsene Frau von 38 Jahren und lasse mich nicht herum kommandieren“, antwortete sie ebenso unfreundlich. Plötzlich war die Mutter am Apparat: „Wir wollten dir nur sagen, dass Eduard bei uns war“, sagte sie ruhig. „Ja, und er hat sich über mich ausgeweint“, sagte Sonja. „Ich muss mir nicht gefallen lassen, dass er mich wie eine seiner Angestellten behandelt.“ „Kind, wir wollen doch nur dein Bestes“, versuchte die Mutter einzulenken. „Und deshalb habt ihr wiederrechtlich die Wohnung ausgeräumt, wie mir mein Anwalt gerade mitgeteilt hat. Ich glaube, ihr lasst mich am besten eine Weile zufrieden. Ich habe genug Sorgen, denn Jannik liegt im Krankenhaus zwischen Leben und Tod.“ Damit legte sie auf.
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