„Entschuldige bitte, dass ich dich gestern so fies behandelt habe“, sagte Sonja verlegen, „ich glaube, damit habe ich deinen Unfall verschuldet, denn du warst ja völlig durch den Wind.“ „Nun ja, ich war ja auch nicht sehr vornehm zu dir mit meiner Frage nach Eduards Liebesfähigkeit, damit habe ich dich doch direkt provoziert. Bitte entschuldige mich auch.“ „Ich glaube, wir brauchen uns nichts vorzuwerfen, ich will dir aber deine Frage ehrlich beantworten: Ja, Eduard ist ein wundervoll zärtlicher Liebhaber und ich fühle mich zum ersten Mal als Frau verstanden. Verzeih‘ mir, dass ich das so offen sage, aber du sollst wissen, was mir außer deiner ständigen Abwesenheit auch noch gefehlt hat.“
Jannik atmete schwer, dann hatte er sich gefangen. „Ich danke dir für deine offenen Worte. Maria hat mir gestern klar gemacht, dass vor allem ich an unseren Problemen schuld bin. Jetzt ist wohl nicht der richtige Augenblick, dich nach deinen Plänen zu fragen, aber eventuell könnte ich mein Berufsleben umstellen, wenn du uns noch eine Chance gibst, denn ich liebe dich trotzdem noch. Und vor allem vermisse ich Melanie.“ „Das geht ihr ähnlich, denn sie hat immer wieder nach dir gefragt“, antwortete Sonja. In diesem Moment trat Maria mit der Tochter ins Zimmer und sagte, der Kranke brauche jetzt Ruhe und die beiden müssten leider gehen. Die Tochter drückte dem Vater noch einen Kuss auf die Wange und sagte, sie würde morgen wiederkommen. Sonja gab Jannik die Hand und dankte der Oma für ihr Verständnis. Jannik bat seine Mutter noch, sich um die Geräte zu kümmern, die er bei eBay bestellt hatte.
„Wird Papa wieder ganz gesund?“, fragte Melanie. „Ich hoffe sehr“, antwortete Sonja nachdenklich, „auf jeden Fall ist er bei Oma Maria in guten Händen.“ „Und ziehen wir dann alle wieder zusammen?“, insistierte das Mädchen weiter. „Das kann ich dir noch nicht sagen, aber ich glaube es kaum.“ „Aber ich will oft bei ihm sein, ganz gleich ob du ihn magst oder nicht“, antwortete Melanie mit fester Stimme. Sonja war so durcheinander von dem Gespräch mit ihrem Mann und jetzt mit der Tochter, dass sie beim Fahren höllisch aufpassen musste. Zu Hause schickte sie Melanie zum Spielen nach draußen, sie musste unbedingt alleine sein. Der Lauenburger Auftrag lag ihr auf der Seele, der Abgabetermin rückte bedrohlich näher. So setzte sie sich an den Rechner und zwang ihre Gedanken an die Arbeit. Kurz vor dem Abendbrot war sie mit dem Ergebnis immer noch nicht zufrieden, doch sie musste die Arbeit Montag Vormittag beim Kunden vorstellen. Morgen würde sie den ganzen Tag daran arbeiten.
Als Melanie im Bett war, überfiel Sonja das Problem wieder mit voller Wucht. Sowohl Jannik als auch seine Mutter hatten ihr nicht die geringsten Vorwürfe gemacht, sondern gezeigt, dass sie ihr Handeln verstanden. Sollte sie mit Eduard darüber sprechen? Aber er war ja Partei in diesem Spiel und sicherlich zu keiner objektiven Antwort fähig. Sie würde ihm ihre Zweifel klar sagen, das war sie sich und beiden Männern schuldig. Mit diesem erlösenden Gedanken schlief sie schnell ein.
Sonntag stand Sonja früh auf, Melanie war, wie üblich, schon länger wach. „Fahren wir heute wieder zu Papa?“ fragte die Tochter beim Frühstück hoffnungsvoll. „Nein, es tut mir Leid, aber ich muss heute den ganzen Tag arbeiten, morgen muss ich das Ergebnis abgeben“, entschuldigte sie sich. „Dann mache ich heute das Mittagessen, ich weiß, du hast noch etwas im Schrank.“ „Das wäre lieb. Spülst du jetzt auch das Geschirr? Dann kann ich gleich loslegen.“ „Ja, gerne“, antwortete das Mädchen bereitwillig. Als sie mit dem Abwasch fertig war, überlegte sie, ob sie alleine zum Papa fahren sollte. Es war ja nicht weit, aber der Mama durfte sie es nicht sagen, die würde es sicherlich verbieten. Also holte sie ihr Rad aus dem Keller und fuhr bei strahlendem Sonnenschein nach Geesthacht. Sie musste zuerst noch ein Stück an der Elbe entlang fahren, und auf einer Wiese vor dem Deich pflückte sie einen Strauß wilder Blumen. Nach 20 Minuten hatte sie die Klinik erreicht.
Als sie die Tür zum Zimmer des Vaters öffnete und ihn wieder leicht küsste, fragte Jannik erstaunt: „Wo hast du denn die Mama gelassen?“ „Die sitzt zu Hause und arbeitet, sie muss bis morgen eine wichtige Sache fertig machen.“ „Und hat sie dir erlaubt, alleine hierher zu kommen?“ „Nicht direkt, aber weil sie heute keine Zeit hat und ich dir gestern versprochen habe, heute wieder zu dir zu kommen, musste ich alleine fahren.“ „Das finde ich ganz lieb, dann darfst du aber nicht so lange bleiben, sonst macht sie sich Sorgen. Erzähl mir doch mal etwas von deiner neuen Schule.“ „Ach, das ist die Altengammer Grundschule, eigentlich nicht schlecht, aber die Kinder sind ganz anders als in Neu-Allermöhe. Manche sind richtige Bauern, die noch nicht mal hochdeutsch sprechen können und sich untereinander nur auf platt unterhalten, wie Opa Wilhelm.“ „Das kann ich mir denken“, sagte der Vater lachend, „mit diesen Leuten hatte ich auch immer Probleme. Ich finde es lieb, dass du mich besucht und so einen schönen Strauß mitgebracht hast, aber jetzt musst du schnell wieder nach Hause fahren, damit Mama sich keine Sorgen macht. Und grüß‘ sie herzlich von mir.“ Das Mädchen küsste den Vater wieder brav auf die freie Wange und fuhr nach Hause.
Der Besuch seiner Tochter hatte Jannik aufgewühlt. Sie stand ihm inzwischen viel näher als seine Frau, denn sie hatte sich bei seinem häufigen Streit mit Sonja immer bemüht, Frieden zwischen ihnen zu stiften, und er hatte darunter gelitten, dass er sie bei seinen wenigen Besuchen so selten sah. Um sie würde er vor allem kämpfen, ganz gleich, wie er mit Sonja zu Rande kam. Unvermittelt kam ihm bei diesen Gedanken wieder das Gespräch gestern mit seiner Frau in den Sinn. Sie hatte ihm klar gesagt, dass abgesehen von dem Streit über seine ständige Abwesenheit dieser Eduard ihr im Bett viel mehr gebe als er es jemals gekonnt hatte. Aber er war doch immer lieb zu ihr gewesen, wenn sie miteinander schliefen. Anscheinend gab es da viel mehr, von dem er nichts wusste. Was würde er denn tun, um Sonja wieder zu gewinnen? Auf jeden Fall wäre er mehr zu Hause, das hatte ihm seine Mutter deutlich genug klar gemacht. Auch nach dem häufigen Streit war Sonja ihm doch nach Melanie und seiner Mutter der liebste Mensch auf Erden. Ja, er würde alles Mögliche tun, um sie zurück zu gewinnen. Mit diesem Vorsatz schlief er ein.
Mit den Worten „Ich soll dich herzlich von Papa grüßen“, stürmte Melanie in die Wohnung und umarmte die Mutter. „Wieso, warst du bei ihm?“, fragte Sonja erstaunt. „Ja ich hatte ihm doch gestern versprochen, ihn heute wieder zu besuchen, und da du keine Zeit hast, bin ich alleine gefahren.“ „Du hättest mir wenigstens Bescheid sagen müssen“, tadelte Sonja. „Und du hättest es mir dann sicherlich verboten!“ „Damit könntest du Recht haben, aber ich finde es lieb von dir, dass du Papa besucht hast“, meinte Sonja lachend. „Ich mache jetzt Mittag, bist du mit einer Linsensuppe aus der Büchse zufrieden?“, fragte das Mädchen. „Du bist ein kleiner Engel, da kann ich ja beruhigt weiter arbeiten“, freute sich die Mutter, doch immer mehr wurde ihr klar, wie sehr Melanie ihren Vater liebte. Nur kurz unterbrochen vom Mittagessen arbeitete sie bis zum späten Nachmittag, dann führte sie der Tochter die Arbeit vor. „Wenn sie das versteht, wird es wohl gut sein“, dachte sie dabei. Und wirklich gab es ein paar Stellen, die das Mädchen nicht verstand, und die Sonja zeigten, was verbessert werden musste. Melanie war schon lange im Bett, als Sonja mit dem Projekt zufrieden war und es auf eine CD brannte. Ruhig schlief sie bald ein.
Nachdem Melanie Montag früh zur Schule gefahren war, fuhr Sonja nach Lauenburg. Sie hatte ihr helles knielanges Kleid mit dem langen Schlitz an der Seite angezogen und eine Goldkette mit einem Amethystanhänger umgelegt und fand sich durchaus attraktiv. Den Männern, mit denen sie zu tun hatte, schien es ähnlich zu gehen. Zwei Stunden lang präsentierte sie jede Einzelheit ihrer Arbeit, und die städtischen Angestellten waren sehr zufrieden. Sonja unterwies den zuständigen Sachbearbeiter, wie er den Auftritt ins Netz stellen konnte, dann rief sie die Seite noch einmal über ihren Laptop aus dem Netz auf, alles klappte zufriedenstellend. „Sie haben etwas Gutes geleistet und die Stadt ist Ihnen dankbar“, sagte der Bürgermeister zum Abschied, als Sonja ihm die Rechnung übergab. „Das Geld haben Sie in einer Woche auf Ihrem Konto.“
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