Er sah ein, dass es dem Ding nicht leicht fiel, sich daran zu halten. Es war jung, es war naiv, es war voller Sehsucht und Erwartung nach dem prallen Leben. Aber das bedeutete nicht, dass es sich davonstehlen durfte, um auf eigene Faust das Leben zu erkunden. Seine Bestimmung war vielmehr die Sehnsucht nach Gott, denn Gott bot viel mehr Erfahrungen, als das irdische Leben versprechen konnte.
Es hatte auf jeden Fall gehorsam zu sein, so wie er Gott gehorsam war. So wie er seine egoistischen Wünsche hintanstellte, so musste es sich in Bescheidenheit und Zurückhaltung üben. So wie er sich nicht an Geld und Besitz klammerte, so durfte es sich nicht durch Mode und Reichtum blenden lassen.
Keuschheit, Gehorsam und Armut waren die drei grundlegenden Regeln seines Lebens. Sie zu halten war nicht einfach. Dazu bedurfte es einer eisernen Disziplin. Und das Ding war dieser Disziplin überdrüssig geworden und hatte nach einer Gelegenheit gesucht, ihrer zu entkommen.
Wann war ihm das gelungen? Wann hatte er es das letzte Mal noch zwischen den Beinen gefühlt?
Als er letzte Nacht nach Hause gekommen war, hatte er nichts mehr gefühlt. Er war allerdings so müde gewesen, dass er an nichts mehr gedacht hatte als an sein Bett. Er hatte auch nicht an den üblichen Klogang gedacht, was erklärte, warum er jetzt hier saß. Sonst hätte er ja durchgeschlafen!
Aber vorher, o heilige Jungfrau!, war eine Menge passiert! Da hatte es mit seiner Disziplin weiß Gott nicht gut ausgesehen. Da waren in seinem Zaun Löcher entstanden, durch die das Ding schlüpfen konnte.
Er hätte Christian und Martin nicht in die Eckkneipe begleiten sollen. Aber es war Donnerstag Abend gewesen, wo sie ihren wöchentlichen Ausgang hatten, und er wollte nicht allein zurückbleiben. Warum sollte man sich nicht ein wohl verdientes Bier gönnen?
Doch es gab Warnsignale. Die Kneipe hieß „Ehrlich währt am längsten“, und er dachte: „Erich hat den längsten“, weil der lange Erich der Wirt war. Das war der erste abwegige Gedanke.
Der zweite kam, als der lange Erich ihnen das Bier brachte und die Humpen hintereinander auf den Tisch stellte und dabei sagte: „Aller guten Dinge sind drei!“
Da wollte sich sein verdammtes Ding verdreifachen und er stürzte sein Bier hinunter und hoffte, auf andere Gedanken zu kommen.
Da war es noch bei ihm gewesen. Das hatte er viel zu deutlich gespürt. Auf dem Weg zur Kneipe hatte es sich geradezu ungebührlich benommen, was peinlich war, sodass er fürchtete, rot anzulaufen. Er mochte es nicht, wenn man sein Gesicht ansah. Seine Pickeln waren zum Glück verschwunden und er brauchte auch keine Brille zu tragen wie Christian und Martin. Er merkte sogar, dass man seine großen, blauen Augen mochte. Aber das war die äußere Fassade, nach der er nicht beurteilt werden wollte. Auf die inneren Werte kam es an, auf die Sehnsucht der Seele nach Gott. Darum musste er die Welt mit ihren schnöden Eitelkeiten verachten.
Am meisten verachtete er die ausstaffierten Schönlinge, die sich immer in den Vordergrund schoben. Sie wollten, dass alle Welt sie ansah und bewunderte. Er dagegen sah sie in ihrer ganzen Nichtigkeit: Tand und Schand!
So ein Schönling drängte sich in die Kneipe und sofort verließ der lange Erich ihren Tisch und trabte auf ihn zu und scharwenzelte herum und führte ihn mit ausgebreiteten Armen wie ein Verkehrspolizist zu einem Tisch in ihrer Nähe. Neben dem Schönling aber ging Gisela!
Gisela! Ja, da fing das Malheur an! Das musste ein Komplott sein, ein Anschlag auf ihn, der sich zum Priester Gottes weihen lassen wollte! Eigentlich wollte er sie vergessen und hatte auch gedacht, dass es leicht war, indem er durch Gebete und Übungen nur Gott in den Mittelpunkt seinen Denkens und Handelns stellte, aber immer wieder drängte sie sich ihm auf, vorzugsweise in Träumen, weshalb er sich natürlich fragen musste, ob sie ihn nicht in diesen Traum gebracht hatte. Es wäre ihr auf jeden Fall zuzutrauen. Für Attacken unter die Gürtellinie war sie sich nicht zu schade.
Gisela war der Anstoß zu seinem Traum. Das hätte er gleich wissen müssen. Er verstand schon gar nicht mehr, warum es ihm erst jetzt einfiel. Denn er hatte Mutters Brief bekommen, wo er von Giselas Verlobung erfuhr. Es war nur natürlich, dass sie ihm nicht aus dem Kopf ging.
Mutter schrieb in dem Glauben, dass er seine damalige Entscheidung gegen Gisela nicht zu bereuen brauchte. Sie hatte ja einen Neuen gefunden! Aber wer war der Neue? Diese Frage hatte sein Hirn gemartert. Er hatte leider davon ausgehen müssen, dass der ganz anders war als er selbst. Denn mit einem wie ihm wollte sie nichts zu tun haben, das verstand er zwar, aber es schmerzte ihn jetzt doch, dass sie mit dem Schönling in die Kneipe hereinspaziert kam. Das hatte sie nicht verdient. Das hatte auch er nicht verdient, denn schließlich waren sie beide lange genug zusammen gewesen, als dass sein Einfluss nicht doch etwas hätte bewirkt haben können. Und jetzt schien sie ihre gemeinsamen Werte mit Füßen zu treten. Und damit auch ihn!
Es war ihm unbegreiflich, wie sie diesen ausstaffierte Schönling offensichtlich heiraten wollte! Ein ausgemachter Dandy! Über seinen engen Hosen mit den scharf gestochenen Bügelfalten protzte ein Smokingjackett mit glänzendem Schalkragen. Darunter schimmerte ein tailliertes Hemd mit bunten Seidentüchern. Seine Füße stecken in polierten Lackschuhen, sein schmales Gesicht war hinter einer großen Sonnenbrille verborgen, sein rotes Haar hoch gegelt. Die Verkörperung von Lust und Eitelkeit! „Voluptas et vanitas!“ Er konnte seinen Anblick nicht ertragen.
Und Gisela zeigte weder Scheu noch Scham, sich ihm hinzugeben! Sie lag in seinen Armen und ließ sich drücken und kneten. Sie drehte und wand sich und schnurrte und gurrte und wollte eindeutig noch mehr von einem Gefummel!
Sie nahm keine Rücksicht auf ihn. Sie wollte, dass er sie sah, damit er die Quittung bekam. Weil er sie verschmäht hatte, rächte sie sich an ihm.
Er hatte sie nicht verschmäht, er wollte nicht diesen Bruch, er hätte gern ihre Freundschaft behalten. Aber ihre Gedanken gingen in Richtung Sicherheit, Heirat und Kinder. Damit konnte er sich nicht begnügen. Er wusste, dass Gott ihn zu Höherem berufen hatte. Er gedachte des Gelübdes, das er in der Erstkommunion geleistet und in der Firmung erneuert hatte: Er wollte ein Streiter Gottes sein, gerüstet mit dem Gurt der Keuschheit, dem Schild des Glaubens, dem Schwert des Heiligen Geistes!
Denn die Kirche war in Gefahr! Die Kirche brauchte Kämpfer! Überall hob der Unglauben sein Haupt, lockte der Mammon mit Lust und Laster, rüstete der Fürst der Finsternis zum letzten Kampf! Und da sollte er in seinem Winkel sitzen und nur an sein persönliches Wohl und Wehe denken?
Gehörte es zu diesem Kampf, dass Gisela ihn versuchen wollte? War sie Werkzeug eines teuflischen Plans geworden, ihn kurz vor der Priesterweihe zu Fall zu bringen? Denn er hatte in der letzten Nacht nicht die Gisela gesehen, die er kannte. Er entdeckte zwar ihre Augen, ihre Nase, ihren Mund, sogar ihre Grübchen, aber sonst war sie ganz anders gewesen. Ihr Körper war schlanker geworden, hübscher, verführerischer! Wie sie sich in ihrem Kleid bewegte, zeigte sie sich selbstsicher, fast frech, denn der Stoff war sehr dünn und ließ jede Rundung ihres Körpers erkennen.
Als sie auf ihn zukam, hielt er den Atem an. Sie schwebte über den Boden, während ihr Kleid sich um die schlanke Figur schmiegte. Ihre Augen waren traurig und trotzig auf ihn gerichtet, ihre Lippen zu einem leichten Schmollen aufgeworfen. So hatte sie ausgesehen, als er ihr sagen musste, er wollte Priester werden. Er war sicher, dass sie ihn erkannte, aber ihr Blick ging gleichgültig über ihn hinweg. Er hätte sie auch gern so übersehen wollen, aber konnte nicht.
Denn sie setzte sich mit dem Rücken zu ihm hin, nur zwei Schritte von ihm entfernt, und ließ ihren Körper dank des dünnen Kleides wie nackt erscheinen!
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