Doch da sie mitten in der Obduktion war, schob sie den Gedanken beiseite, um ihre Wachsamkeit bei der weiteren Untersuchung nicht zu verlieren.
Für die Geschlechtsbestimmung eines Skelettes sind in der Regel eindeutige Unterscheidungsmerkmale von Schädel- und Beckenknochen ausschlaggebend. Das Becken der Frau ist den biologischen Funktionen von Schwangerschaft und Geburt angepasst. Der typische Schädel eines Mannes hat eine im stärkeren Maße fliehende Stirn als der einer Frau. Außerdem ist der männliche Schädel insgesamt größer und hat stark ausgeprägte Augenwülste. In dem vorliegenden Fall kam Sophia zu dem eindeutigen Ergebnis, dass es sich bei dem Toten um einen Mann handelte.
Zur Identitäts- und der Herkunftsfeststellung würde sie einen der besten im Kiefer vorhandenen Zähne auswählen, um eine DNA- und Strontium-Analyse durchführen zu lassen. Letztere war zwar auf Grund der globalen Verteilung von Nahrungsmitteln bei Todesfällen in der neueren Zeit sinnlos, doch je länger die Liegezeit war, umso zweckdienlicher würde diese Methode sein.
Damit war Sophia wieder bei der Liegezeit. Dazu wollte sie abschließend eine Untersuchung anstellen, deren Methode zufällig Bestandteil ihrer Doktorarbeit gewesen war. Ein Knochen, der zu Lebzeiten einen hohen Anteil an innerem Weichgewebe hatte, wird dabei in einem sterilen Wasserbad so weit erwärmt, dass die möglicherweise noch vorhandenen Fettanteile sich aus dem Knochen lösen und ins Wasser übergehen. In einem zweiten Schritt wird die Flüssigkeit einer Destillation unterzogen und das gewonnene Konzentrat mit einem Refraktometer betrachtet. Dadurch lässt sich die Veränderung des Brechungsindex feststellen und ein Rückschluss auf den Fettgehalt des Knochens gewinnen. Sie wählte einen der Oberschenkelknochen aus, legte ihn in die dafür vorhandene Apparatur im Labor, füllte den Behälter mit destilliertem Wasser und startete den Prozess.
Zur Bestimmung der Körpergröße vermaß Sophia einen Oberschenkelknochen und ein Schienbein und berechnete anhand von Regressionsformeln eine Körperlänge von 182 cm (plus/minus vier Zentimeter).
Da sie nun mit ihrer Obduktion fertig war, betrachtete sie die gefundenen Gegenstände etwas genauer. Sie war keine Expertin für Artefakte, aber ihr erschien der Zustand der Objekte als auffällig gut erhalten. Die Klinge war aus Stahl, wies aber nur minimale Korrosionserscheinungen auf. Sie würde einen Experten auf dem Fachgebiet hinzuziehen müssen. Gedanklich nahm sie diesen Punkt mit in die Agenda für die heutige Fallbesprechung auf.
Paul und Verena erschienen, begrüßten sie freundlich und erklärten, dass sie bis nach Mitternacht gearbeitet hatten, Verena erklärte mit strahlendem Antlitz:
„Wir waren so gut im Flow, da hat mich der Ehrgeiz gepackt und ich wollte unbedingt das Skelett arrangieren. – Ich hoffe, ich hab alles richtig gemacht.“
Sophia nickte lächelnd. „Auf dem ersten Blick sah alles gut aus. Kompliment! – Habt ihr noch weitere Gegenstände gefunden?“
„Nein, gar nichts“ erwiderte Paul kopfschüttelnd. „Selbst bei höchster Empfindlichkeit des Metallsuchgerätes gab es keinen Ausschlag.“
„Ok. Vielen Dank für euren Einsatz. Habt ihr überhaupt noch Zeit gehabt, etwas zu essen?“
„Ja, ja, sicher. Wir haben dann noch zusammen bei Meiers am Bahnhof eine Pizza gegessen.“
Verena blickte Paul dabei von der Seite an, was Sophia vermuten ließ, dass danach der Abend für die beiden noch nicht zu Ende gewesen war.
Sophia konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
„Eins noch! Könntet Ihr nochmal zum Fundort fahren und nach den Fingerknochen suchen? Vielleicht sind sie im Aushub. Und stellt vorher bitte einen Gipsabdruck vom Gebiss her, ja? - Ach ja, ich habe die Fettdestillation gestartet. Wenn sie fertig ist, bestimmt den Fettgehalt und schickt mir das Ergebnis per Mail, ich müsste dann im Präsidium sein.“
Sophia ließ sie alleine. Bevor sie zum Polizeipräsidium fuhr, hatte sie noch einiges in ihrem Büro zu erledigen.
Sie startete ihren PC und widmete sich zunächst ihrem Kalender. Neben der Einladung zur Fallbesprechung sah sie, dass sie ab morgen bis zum Wochenende ein zweitägiges Seminar in Münster gebucht hatte. Das hatte sie gar nicht mehr auf dem Schirm gehabt. Das Thema interessierte sie, hieß aber, dass sie noch einiges mehr zu erledigen hatte. In dem aktuellen Fall konnte sie ja schon mal ein vorläufiges Gutachten abgeben, dann hatte sie danach um so mehr Ruhe, um die endgültige Version zu erstellen. Außerdem stand für den heutigen Abend ‚Kai, Abendessen‘ in ihrem Kalender.
Ihr Telefon klingelte und sie hob ab. Da ihr die Rufnummer im Display nicht bekannt vorkam, meldete sie sich mit:
„Rechtsmedizin Hagen, Dr. Jäger.“
„Guten Tag Frau Jäger, Uwe Volkerts hier. Sie erinnern sich sicher. Wir waren gestern auf der Pressekonferenz.“
Intuitiv antwortete Sophia nicht. Eine Bestätigung käme bereits einer Annäherung gleich. Sie bevorzugte aber die Distanz.
Er fuhr fort: „Ich wollte mal fragen, wie wir das jetzt praktisch organisieren mit der Überführung des Skeletts.“
„Na, Sie haben es aber eilig. Wir wissen ja noch gar nicht, von wann das Skelett ist!“
„Nicht?“, entgegnete Volkerts erstaunt.
Das schon wieder! Hätte ich doch bloß den Mund gehalten! Sie merkte, wie ihre Halsschlagader anfing zu pochen. Was immer geschah, wenn Wut in ihr aufstieg. Aber ohne mich! Ich werde mich nicht in eine Ecke stellen lassen.
„Ja, was denken Sie denn?“, platzte es aus ihr heraus. „Dass wir das Skelett einfach fragen, und schwuppdiwupp sagt es: Ich bin seit x Jahren in der Erde .“
„Nein, aber gestern haben Sie doch gesagt ...“
„Nichts habe ich gesagt!“, donnerte Sophia zurück.
Volkerts war wenig beeindruckt und fragte: „Ja, lesen Sie denn keine Zeitung?“
„Nein, lese ich nicht. Und ich wüsste auch nicht, wie mir das helfen sollte!“ Natürlich las Sophia Zeitung, sofern es ihre Zeit zuließ, doch sie verspürte keine Lust, sich mit Herrn Volkerts auf eine Diskussion über ihre Arbeitsweise einzulassen.
Sophia war in Fahrt. Was bildete sich dieser Fatzke ein? „Wissen sie was? Sie können mich mal ...“, im letzten Moment drosselte sie sich und vollendete den Satz „... nächste Woche wieder anrufen!“, und legte auf.
Kurz vor ein Uhr betrat Sophia das Gebäude des Polizeipräsidiums. Drei Minuten später betrat sie den kleinen Konferenzraum direkt neben Walthers Büro. Erwin saß bereits dort und startete gerade das Datenbankprogramm zum Zugriff auf alle Ermittlungsakten, die seit einiger Zeit nur noch elektronisch geführt wurden. Es war die gleiche Anwendung, die auch die Rechtsmedizin zur Ablage ihrer Daten nutzte, und somit waren sämtliche Dokumente, Protokolle, Bildaufnahmen zentral für jeden, der entsprechende Zugriffsrechte besaß, verfügbar.
Sie setzte sich an den ovalen Tisch, so dass sie gut, ohne sich verrenken zu müssen, den großen Monitor an der Wand und Erwin sehen konnte, während der Kriminalkommissar ihr eine Bildzeitung rüberschob.
„Hey Sophia, jetzt bist du berühmt!“
Sophia starrte auf die Titelseite und es verschlug ihr zunächst die Sprache. Sie sah eine Aufnahme eines Skelettes in einer Erdgrube. Es war nicht das ihres Falls, aber in der rechten linken Ecke war eine Aufnahme von ihr, darüber stand in übergroßen fetten Lettern:
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