Dann war da Herr Volkerts. Hierzu war ihr bereits während der Pressekonferenz eingefallen, dass sie den Namen schon einmal von ihrem Freund Kai Sommer gehört hatte. Kai hatte einen Bachelor in archäologischer Geschichte und aktuell einen befristeten Arbeitsvertrag im Heimatmuseum. Herr Volkerts war sein Chef. Den Erzählungen Kais und den heutigen Ausführungen von Uwe Volkerts selbst zufolge lag es auf der Hand, dass er nach jedem potentiellen Exponat lechzte, um an Geld zu kommen.
Nach ihrer ersten Runde durch den Wald konnte sie die Gedanken abschütteln, indem sie sich vornahm, sich auf ihre Untersuchungen zu konzentrieren. Nun nahm sie auch die Herrlichkeit des Waldes wahr, die frische Luft, die durch ihre Bronchien strömte, und das besondere Grün der Blätter, wie es jedes Jahr nur in einem kleinen Zeitfenster von zwei Wochen zu sehen war. Denn nachdem die Bäume aus ihrem Winterschlaf kommend neue Blätter produzieren, enthalten diese zu Anfang nur wenig Chlorophyll, das die Blätter grün erscheinen lässt. Die Blätter sind dann zart und lichtdurchlässig, sodass die Sonnenstrahlen zum Teil durch sie hindurch scheinen, und somit im Auge des Betrachters ein leuchtendes helles Grün erzeugen.
Erst als sie abends im Bett lag, holten ihre Gedanken sie wieder ein. Was sollte nicht ans Tageslicht kommen? Warum schien sie die Einzige zu sein, die den Fund als das betrachtete, was es war? Ein kriminaltechnisch zu untersuchender Fund!
Das Verhalten ihres Kollegen Walther war schwerer einzuordnen. Agierte er nur als der Profi, der wusste, was in dem großen Spiel hinter der Bühne ablief? Der sich nicht opferte, weil er sich im Klaren darüber war, dass er nicht gewinnen konnte ? Sophia war sich sicher, dass sie in ihrem Fachbereich, der Rechtsmedizin, gut war. Und sie war sich dessen bewusst, dass sie mit ihrer Frage nach den Fakten fachlich gesehen richtig lag. Doch wenn es um politische Ränke- und Machtspiele ging, war ihr Erwin aufgrund seiner Erfahrung um einiges voraus? Je länger sie darüber nachdachte, umso mehr kam sie zu der Überzeugung, dass Erwin aktuell, aus seiner Perspektive betrachtet, einfach nur klug agierte. Nicht umsonst hatte er es bis zum Leiter der Mordkommission gebracht. Aber Erwin war nicht der Schlüssel zur Lösung des Falles, jedenfalls nicht im Moment, das wurde Sophia klar. Und sie würde gut beraten sein, sich nicht an Erwin aufzureiben.
Ihre Selbstdisziplin, sich unbeirrt auf die weiteren Untersuchungen zu konzentrieren, ließ sie schließlich einschlafen.
Ausgeruht und voller Tatendrang erschien Sophia am nächsten Morgen im Labor der Rechtsmedizin. Verena und Paul waren äußerst produktiv gewesen, denn zu ihrer Überraschung lag das exhumierte Skelett, einschließlich der gefundenen Gegenstände, bereits in anatomisch korrekter Anordnung auf einem der Obduktionstische.
In ihrem Büro fand sie auf der Computer-Tastatur das Protokoll der Exhumierung, versehen mit einem kleinen Post-it auf dem stand „Wurde spät, kommen morgen etwas später. Viele Grüße Paul ☺.“ Sophia überflog kurz das Protokoll. Demnach wurden außer den ihr bereits bekannten Gegenständen keine weiteren Objekte gefunden. Haare oder Weichteile der verstorbenen Person gab es anscheinend nicht.
Sophia wollte vor der Fallbesprechung die Obduktion erledigt haben und zog sich dafür um. Eine Obduktion dient der Feststellung der Todesursache und der Rekonstruktion des Sterbevorgangs sowie der Geschlechts- und Identitätsbestimmung. Da der Sterbevorgang kausal mit dem Tathergang verbunden ist, ist außerdem der Todeszeitpunkt von Interesse. Üblicherweise werden bei Leichenfunden bereits am Fundort wichtige Erkenntnisse zum Todeszeitpunkt gewonnen, wie zum Beispiel die Körpertemperatur, Madenbefall, Verfärbung der Leiche und eine Vielzahl anderer Merkmale. Da keinerlei Weichteile vorhanden waren, war die Liegezeit des Skeletts eine wichtige Information zur Festlegung der weiteren Vorgehensweise. Wie Sophia es am Vortag bereits ihren beiden Assistenten im Ansatz erklärt hatte, war allerdings die Klärung der Liegezeit bei Skelettfunden sehr schwierig.
Mit der C14-Datierung hatte die Wissenschaft der Archäologie zwar ein starkes Werkzeug an die Hand gegeben, doch für eine Datierung in rechtlich relevanten Fällen hatte diese Methode eine zu geringe Aussagekraft. C14 zerfällt mit einer Halbwertszeit von ungefähr 5.730 Jahren. Bei großen Zeitabständen kommen damit wertvolle Ergebnisse zustande. Selbst die natürliche Ungenauigkeit von mindestens plus/minus 40 Jahren fällt bei Betrachtungen solcher Zeiträume nicht ins Gewicht. Jedoch sind bei Annahme eines kürzeren Zeitraumes 40 Jahre mehr oder weniger schon beachtlich. Sophia kam zu dem Schluss, dass in dem vorliegenden Fall andere Hinweise zu beachten seien. Den zusammen mit dem Skelett gefundenen Gegenständen und deren Datierung würde man eine besondere Aufmerksamkeit schenken müssen.
Sophia begann damit, das Skelett auf Vollständigkeit zu untersuchen, und betrachtete, die lateinischen Namen der einzelnen Knochen dabei aufzusagen, als schöne Übung. Das Skelett war vollständig, bis auf die fehlenden Finger der rechten Hand. Sie sprach in ihr Diktiergerät: „Fehlende Phalanx media und Phalanx distalis an III, IV und V. Keine Schäden durch äußere Einwirkung an den verbleibenden Phalanx proximalis erkennbar.“ Das könnte ein Hinweis dafür sein, dass ihr Besitzer sie zu Lebzeiten verloren hatte. Denn bei einer Amputation im Bereich der Finger wird gerne das nächste Gelenk als Trennstelle gewählt. Bei einer zum Zeitpunkt des Tathergangs herbeigeführten Abtrennung war nicht ein so sauberes Ergebnis zu erwarten. Auch Tierfraß konnte nicht ausgeschlossen werden, denn nicht selten verschleppten Tiere Teile des Körpers. Dies wäre ein Indiz, dass der Leichnam vor der Bestattung eine gewisse Zeit oberirdisch gelegen hätte. Doch sie glaubte nicht an eine Amputation durch Tierfraß, wusste jedoch, dass sie es in ihrem Bericht nicht ausschließen durfte. Dies könnte die Ermittlungen unter Umständen auf eine falsche Spur bringen, und eine Interpretation war nicht Bestandteil der Obduktion.
Um mögliche Gewalteinwirkungen festzustellen, untersuchte sie auch die anderen Knochen auf Schnittverletzungen. Insbesondere den Stellen, an denen häufig Stich- und Schlagverletzungen zu finden waren, wie z.B. den Rippenbögen, der Wirbelsäule und dem Schädel, widmete sie ihre besondere Aufmerksamkeit. An keiner Stelle konnte sie die geringste Spur einer Gewalteinwirkung finden. Auch Frakturen im Bereich der Halswirbel waren nicht feststellbar. Jeder Hinweis auf eine mögliche Todesursache fehlte. Was allerdings nicht bedeutete, dass die Person eines natürlichen Todes gestorben war.
Zur kriminalistischen Aufklärung waren außerdem die Identität, Alter, Geschlecht und Herkunft von besonderem Interesse. Sophia fiel es nicht schwer, das Alter zum Zeitpunkt des Todes anhand des Zahnstatus, der Verknöcherungen der Wachstumsfuge an den Gelenkenden der langen Röhrenknochen und der Schädelnähte zu taxieren. Sie kam zu einem Ergebnis zwischen 35 und 55 Jahren. Sie gewährte sich selbst einen großen Spielraum bei der Taxierung, da ihr starke Anzeichen einer Mangelernährung auffielen. Offensichtlich hatte der Tote in seinen letzten Lebensjahren nicht die beste Nahrung erhalten. Auch der allgemeine Zustand der Zähne war nicht sehr gut. Sie hatte einmal gelesen, dass besonders die Soldaten der französischen Armee aufgrund der expansiven Kriegsbewegungen, mit denen Napoleon seine Grande Armée durch Europa befehligt hatte, unter langen Entbehrungen hatten leiden müssen.
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