Im oberen Stockwerk waren eine große Kammer auf der rechten Seite und zwei kleinere auf der linken. In der großen stand das Ehebett und davor seit einiger Zeit eine Wiege, die geduldig auf den Zuwachs der Familie wartete. Die beiden kleinen Kammern waren für die Kinder gedacht, sobald der Platz für sie im elterlichen Schlafgemach nicht mehr ausreichen würde.
Der stolze Vater erblickte nach Betreten des Hauses sofort die Hebamme, die im großen Raum zur Rechten am Tisch saß, im Arm ein kleines Bündel mit dem Kind. „Der Wundarzt ist gerade noch bei der gnädigen Frau oben Meister Recksiepe. Aber schaut, hier habe ich Euren Sohn. Habe ihn auch schon gewogen, stolze sieben Pfund ist der Junge“, und reichte ihm dabei das Bündel. Friedrich nahm vorsichtig seinen Erstgeborenen in den Arm und schaute ihm ins Gesicht. „Friedrich, sollst du heißen!“, und zur Hebamme gewandt: „Sag bitte dem Pfarrer Bescheid. Wenn es recht ist, würden wir ihn gerne morgen nach der Messe taufen lassen.“
Der Wundarzt hatte der Mutter, Katharina Recksiepe, dringend davon abgeraten, ein weiteres Kind zu gebären. Sie neige zu starken Blutungen, hatte er ihr gesagt, und das Risiko bei einer weiteren Geburt zu verbluten, wäre zu groß. Doch dieses Mal hatte Katharina überlebt. Der junge Friedrich genoss damit die größte Aufmerksamkeit von Mutter, Vater und Urgroßvater, die man sich vorstellen konnte. Mit dem Urenkel verbrachte dieser viel Zeit, obwohl ihm davon nicht mehr so viel blieb. Denn gut ein Jahr nach der Geburt des Stammhalters fuhr der Urgroßvater nach Herdecke, einer kleinen Stadt in unmittelbarer Nähe von Hagen. Eigentlich kein erwähnenswerter Vorgang. Er lieferte dort einige wichtige Schmiedeteile an eine mechanische Werkstatt aus, nahm in einer Gaststätte ein Mittagsmahl zu sich, und fuhr wieder zurück nach Eilpe. Doch zwei Tage später bekam er starken Durchfall und war am dritten Tag tot. Denn, was er vor seiner Abfahrt nicht gewusst hatte, war, dass in Herdecke zu dieser Zeit die Cholera wütete.
Frisch geduscht betrat Sophia gegen 15 Uhr das Rathaus an der Volme. Die Volme ist einer der kleinen Flüsse, die das Stadtgebiet durchfließen und durch ihre Wasserkraft der Stadt einst zu einem ansehnlichen Wohlstand verholfen hatten. Im Foyer wurde sie bereits von Erwin Walther empfangen, der nach kurzen Blick auf seine Armbanduhr in Hektik verbreitender Art sagte: „Die Pressekonferenz fängt in 20 Minuten an. Einige vom Rundfunk und vom WDR sind schon da. Es ist oben im großen Konferenzsaal.“
„Und wer veranstaltet hier diesen Hype?“, entwich es ihr, als sie die breit geschwungene Treppe hinauf liefen.
„Nun, soweit ich das richtig mitbekommen habe, hat der Herr Recksiepe den Oberbürgermeister angestachelt. Das sagt ja wohl alles“, erwiderte Erwin mit gedämpfter Stimme.
Sophia hob erstaunt die Augenbrauen. „Nein, tut es nicht!“
Erwin stutzte kurz, um sich aber direkt wieder zu fangen:
„Oh sorry, ich vergesse immer wieder, dass du ja nicht von hier bist. Also, die Firma Recksiepe gehört in Hagen zu den größten Arbeitgebern. Sie hat vor Ur-Zeiten in der Klingenproduktion angefangen und ist mittlerweile ein bedeutender Automobilzulieferer. Ich glaube, es fährt kein Auto durch die Gegend, in dem nicht irgendein Teil von Recksiepe verbaut ist.“ Er hob die Hand, wie zur Abwehr, „Aber grundbodenständige Leute! Und Dieter Recksiepe plant da gerade ein Joint-Venture mit irgendeinem großen indischen Konzern. Da möchte er natürlich keine seltsamen Geschichten über Leichen in seinem Garten erklären müssen. Er möchte den Ball halt flach halten.“
„Und um den Ball flach zu halten, veranstaltet er dieses Brimborium hier?“, platzte es abermals aus Sophia heraus.
„Das nennt man Offensive!“, erwiderte der Kommissar mit einem fetten Grinsen.
Mittlerweile waren sie an den noch geöffneten Türen des großen Saals angekommen. Schweigend betraten sie ihn und augenblicklich waren etliche Blicke auf sie gerichtet. Im hinteren Teil des Saales stand ein langer Tisch, mit etlichen Stühlen dahinter. In der Mitte der Stuhlreihe saß der amtierende Oberbürgermeister, Thomas Reiter. Neben ihm saß ein Mann um die fünfzig in einem dunkelblauen Anzug. Dazu passend trug er ein gelbes Einstecktuch in der Brusttasche des Zweireihers und in der gleichen Farbe eine Krawatte. Mit den silber-grauen Haaren und den blauen Augen eine äußerst seriöse Erscheinung.
Links vom Oberbürgermeister befanden sich zwei freie Plätze. Vor einem dieser Plätze stand ein weißes Namensschild mit ihrem Namen, deshalb nahm sie dort Platz und begrüßte die Anwesenden in der Reihe mit gut sichtbarem Kopfnicken. Auf dem Namensschild zu dem verbleibenden freien Platz stand „Uwe Volkerts“. Der Name kam ihr bekannt vor, sie konnte ihn aber nicht zuordnen. Nachdem sie Platz genommen hatte, drehte sie sich zu Erwin um, der in der zweiten Reihe hinter ihr stand, als wäre er ihr Bodyguard.
„Und was ist mit dir? Musst du stehen?“
Er neigte sich zu ihr hinunter und erklärte „Der OB meinte, wir sollen kein falsches Licht auf den Fund werfen, und daher wäre es besser, wenn die Kripo nicht in der ersten Reihe sitzt.“ Dann beeilte er sich, noch zu ergänzen, „Bei dir ist das ja was anderes. Du bist Wissenschaftlerin.“
Seltsame Veranstaltung hier dachte Sophia, als sie sich wieder umdrehte. „Guten Tag, Frau Kollegin“, erklang eine gehetzt wirkende Stimme zu ihrer Linken. Irritiert blickte sie zur Seite und sah einen korpulenten Mann, aus dessen hell-blauem Oberhemd man gut ein Einmannzelt hätte nähen können. Er trug eine aus der Mode gekommene Krawatte mit grünem Paisley Muster und dazu ein beigefarbenes Sakko aus zerknitterten Leinenstoff. Sophia konnte sich nicht gegen den Gedanken wehren, Oh mein Gott, der Typberater gehört ins Gefängnis! Er nahm neben ihr Platz. Immer noch schwer atmend. Die Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, und die wenigen, dünnen und asch-blonden Haare waren eine traurige Erscheinung über dem blassen Gesicht und der Brille der Marke Kassengestell.
„Guten Tag“ Ah, das war also Herr Volkerts. Sie nahm nicht an, dass er Mediziner war, sonst würde sie ihn wahrscheinlich kennen. Die Anrede als Kollegin wirkte verstörend. Seltsame Menschen, hier.
Oberbürgermeister Reiter ergriff das Wort: „Meine Damen und Herren von der Presse und vom Rundfunk, ich danke Ihnen, dass Sie es so kurzfristig einrichten konnten, und bin sicher, Sie werden nicht enttäuscht werden. Aber zunächst möchte ich uns kurz vorstellen; zu meiner Rechten Herr Dieter Recksiepe, Direktor und geschäftsführender Gesellschafter der Firma Friedrich Recksiepe & Söhne. Zu meiner Linken darf ich vorstellen Frau Dr. Sophia Jäger, leitende Forensikerin hier in unserer schönen Stadt“, dabei bemühte er sich, ihren Namen und die schöne Stadt besonders zu betonen, wohl um vom Synonym für Gerichtsmedizin abzulenken. „Und zu unserer gemeinsamen Linken unser lieber Dr. Uwe Volkerts, Direktor unseres Heimatmuseums.“
Der rhetorisch geübte Oberbürgermeister begann seine Einführung mit einer Darstellung der Funde prähistorischer menschlicher Skelette im Stadtgebiet und der Bedeutung der geographisch und strategisch interessanten Umgebung. Der Museumsdirektor nickte gelegentlich zustimmend. Anschließend leitete er seine Ausführungen zum aktuellen Fund ein. „... Wie bereits erwähnt ist das menschliche Skelett nahezu vollständig erhalten und in gutem Zustand. Aber nun möchte ich die Fragerunde eröffnen, bei der uns unsere Expertin Frau Dr. Jäger sicher gerne ein Bild zum aktuellen Stand geben wird.“
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