Der Abend klang bei Wolfgangs geliebten „Hoffmanns Erzählungen“ in der Städtischen Oper aus. Als die Barkarole erklang, legte er den Kopf an Diethilds Schulter und flüsterte: „Ich kann dir gar nicht sagen, wie ich diese Melodie liebe. Hab Dank, Geliebte, für diesen herrlichen Tag.“ Die beiden brauchten lange, um sich nach der Vorstellung zu trennen, so schön war ihre Liebe.
Am 11. 5. brachte Wolfgang die Geliebte zum Flughafen. Sie wollte in Landstuhl, wo ihre Mutter mit den jüngeren Geschwistern lebte, eine Stelle als Kindermädchen in einem amerikanischen Haushalt antreten. Als die beiden sich zum Abschied innig küssten, sahen sie eine strahlende gemeinsame Zukunft vor sich liegen. Sie ahnten nicht, dass dieser Kuss ihr letzter sein würde. Um 6:30 entführte das Flugzeug Diethild auf Nimmerwiedersehen.
Landstuhl, den 14. 5. 54, Geliebter!
... Gestern Abend war ich mit dem CVJM-Führer Hermann Rübel (Kaekkes Alter) und meiner Freundin Gerda in Kaiserslautern. Pfarrer Busch aus Essen sprach über das Thema „Kann Liebe Sünde sein?“ Ich war begeistert von der Art und Überzeugungsgewalt dieses Mannes Er hat uns alle gepackt mit dem, was er sprach. Auf dem Heimweg habe ich mich dann mit den beiden prima unterhalten. Zuerst sprachen wir über die Gruppe, dann über Bach und zeitgenössische Musik. Ich glaube, mit Hermann könnte ich gute Kameradschaft halten. Für Dich besteht kein Grund zur Besorgnis. Es liegt also nur daran, ob es von „seiner“ Seite so bleibt. Ich werde mein Möglichstes tun. Ich denke immer noch an die schönen Tage in Berlin und grüße Dich ganz herzlich, Deine Diethild
Berlin, den 16. 5. 54, Meine geliebte Diethild!
... Ich erzählte Kaekke von dem Erlebnis der Oper, da fragte er, was wir gehört hätten. Da erfuhr ich, dass er mit Ingrid auch in der Oper war, allerdings im zweiten Rang. Aber in der Pause waren sie wie wir unten auf der Straße. Wie findest Du das? Sie müssen ebenso ineinander versunken gewesen sein wie wir. Und das freut mich sehr: Ich habe das Gefühl, Kaekke und Ingrid haben sich gern. Ich bin sehr dankbar dafür. Aber es ist ein eigenartiges Gefühl zu beobachten, wie jetzt auch in das Leben des Freundes ein Mädchen hinein wächst, wie er, der sonst alles mit mir besprach, nun auch in manchen Dingen das Geheimnis wahrt.
Ich möchte Dich stundenlang küssen und grüße Dich von ganzem Herzen, Dein Wolfgang
Landstuhl den 20. 5. 54, Mein lieber, lieber Wolfgang!
... Ich finde es fast unglaublich, dass Kaekke und Ingrid an besagtem Abend auch in der Oper waren. Dass Liebe derart blind macht, hätte ich nie gedacht. Aber ich würde mich freuen, wenn aus den beiden etwas würde. … Mit Hermann und einem anderen Mädel stiegen wir gestern Abend auf die alten Zinnen, ein bisschen singen. Ein Feuerchen hatten wir auch, die Leute wollen ja so viele Lieder von mir lernen. An diesem Abend war Hermann vielleicht ein bisschen verschossen, obwohl ich es nicht darauf angelegt hatte. Sicher war auch die romantische Stimmung bei Feuer und Nacht und Singen daran schuld. Heute machten wir dann reinen Tisch. Während stundenlanger Nachtgespräche vor unserer Haustür sprachen wir über Kameradschaft und ähnliche Themen.
Hermann fehlt ein Freund, dem er alles sagen kann, was ihn bewegt; ein Mädchen hat er nie gehabt. Er wunderte sich, dass er mir gegenüber so offen war. Es sei das erste Mal, dass er überhaupt mit jemandem über sein Innenleben spreche. Irgendwie ist mir das nicht ganz Recht, wenn er so total auspackt, weil ich ihm doch nicht so nahe stehe wie Dir. Ich frage mich immer, bin ich befugt, solch Vertrauen entgegen zu nehmen? Ich kann ihm wohl in manchem helfen, weil ich schon etwas älter bin und mir schon in manchem eine Meinung geschaffen habe. Er meint, er könne mit 90 % Sicherheit sagen, dass es bei ihm bei der Kameradschaft bliebe und rechne es mir hoch an, dass ich ihm gleich zu Anfang von Dir erzählt habe. Die meisten Mädchen täten das nicht.
In tiefer Liebe grüße ich Dich ganz herzlich, Deine Diethild
Berlin, den 26. 5. 54, Mein geliebtes Mädel!
... Heute hatte ich wenig Lust zu tanzen, bediente meist die Musik. Und war zum ersten Mal neidisch auf Kaekke. Fast jeder brachte ja ein Mädel nach Hause, er natürlich Ingrid. Und da beneidete ich ihn um diese Gemeinsamkeit, diesen Schatz, bei dem ich nur zusehen konnte. Ich saß dann lange unten an der Krummen Lanke, sagte mir, dass ich ja undankbar sei, ich habe doch Dich und Deine Liebe. Und trotzdem musste ich kämpfen, dass ich den Neid loswurde.
Früher war ich der Meinung, ein Junge sei in jeder Hinsicht der führende Teil, er könne auch ein Mädchen zu allem verführen, wenn er wolle. Dies trifft aber nicht zu, wenn das Mädel eine starke Persönlichkeit ist und der Junge nicht. Du bist stark und kannst Hermann menschlich viel geben; wenn er sich jedoch in Dich verknallt, liegt die Verantwortung bei Dir. Gerade weil es so schön ist, Dich zu lieben, ist es wohl schwer, kühl und unbeteiligt zu bleiben. ... Es ist eine große Freude, wenn man hören und mitfühlen kann. Ich habe mich oft gefragt, wodurch ich solch Vertrauen verdient habe. Da ein Verdienst in keiner Weise vorlag, konnte ich mir nur vornehmen, das Vertrauen in bester Weise zu rechtfertigen. Es ist ja für den anderen ein großes Geschenk, wenn er mal frei reden kann und jemand hört ihm zu. Sieh es einfach als Auftrag an, Hermann zu helfen. Ich liebe Dich unendlich, wenn ich Dich doch jetzt küssen könnte, Dein Wolfgang
Nach einigen weiteren Briefen kam das furchtbare Telegramm:
LANDSTUHL, 30.6.54 = DIETHILD TOEDLICH VERUNGLUECKT. BEERDIGUNG FREITAG MITTAG = HERMANN RUEBEL +
Wolfgang packte seinen Tornister, Auf dem Weg zum Kontrollpunkt Dreilinden traf er Ingrid, die ihn mit Tränen in den Augen umarmte, als er ihr von seinem Verlust erzählte. Ein Lastwagen nahm ihn mit. Unterwegs bat er den Fahrer, kurz zu halten, um ein Kochgeschirr märkischen Sand als Heimatgruß für Diethilds Grab mitzunehmen. Freitag früh erreichte er Landstuhl, wo Diethilds Mutter ihn liebevoll in die Arme nahm. Mit dem Rad auf dem Weg von der Arbeit war Diethild von einem schleudernden Anhänger überrollt worden. Auf dem Friedhof war ihr Sarg noch offen, fassungslos schaute Wolfgang in das Gesicht, das er geliebt und geküsst hatte wie kein anderes in seinem Leben. Behutsam drückte er einen Kuss auf die blutleeren Lippen, so zart und leicht wie beim ersten Mal in Stuttgart. Bei der Trauerfeier schüttete er stumm den märkischen Sand auf den Sarg. „Wenn doch auch für mich ein Lastwagen käme“, dachte er verzweifelt. Doch plötzlich stand Kaekke neben ihm und umarmte ihn. Er war Wolfgang sofort nachgefahren, als er von Diethilds Tod erfuhr. Jetzt konnte Wolfgang reden, und der Freund hörte geduldig zu. Allmählich lichteten sich die Nebel und Wolfgang begriff, dass das Leben weiter gehen musste, auch ohne Diethild. „Du hast deinem Namen Ehre gemacht und mir Frieden gebracht, ich werde dich jetzt nur noch Bringfried nennen“, sagte er zu dem Freund.
In Berlin sprach Klaus Wolfgang an: „Um wen trauerst du? Diethild braucht keine Trauer, sie ist bei Gott. Du trauerst ganz allein um dich, um deine unerfüllten Hoffnungen.“ Langsam begriff Wolfgang, dass er trauern durfte, aber jetzt weiter leben musste. Seine Jungen und die Schule brauchten ihn. Und zum ersten Mal nach der Nachricht von Diethilds Tod konnte er wieder die Hände falten:
- Heiliger Gott, Du hast mich bis hierher geführt. Gib mir doch, dass ich erkenne: Alles ist für uns zum Besten nach deinem Willen und Deinem unerforschlichen Plan.
- Heiliger Gott, ich danke Dir für alles, was Du uns in dieser Zeit an Schönem geschenkt hast, ich danke Dir, dass ich diesem reinen Mädel Liebe geben durfte.
- Heiliger Gott, bitte gib mir Kraft, das zu tragen, gib mir Stärke und Mut, weiter Deiner Führung zu vertrauen.
Читать дальше