Diesem Zustand des regelmäßigen nächtlichen Aufbleibens - und meist auch Trinkens - geben sich einige Menschen nicht nur gelegentlich aus anscheinend freien Stücken hin, sei es nun aus Einsamkeit, innerer Leere, Vergnügungssucht – oder eben aus beruflichen Gründen. Gerade als Barmann hat man für gewöhnliche keine große Wahl, was die Arbeitszeiten angeht. Die Ausübung des Berufs erstreckt sich fast immer auf die Abend- und Nachtstunden, womit besondere Gefahren und Belastungen einhergehen, die schon so manchen smarten und charismatischen Typen in die Entzugsklinik gebracht haben.
Eben jene Gründe, die die Nacht so besonders und anziehend machen, sind es, die auch den Bartender verlocken und seine Disziplin und Selbstbeherrschung stets aufs Neue einer harten Probe unterziehen. Hinzu kommt noch, dass, jedenfalls ab Überschreitung einer gewissen Uhrzeit, fast alle Menschen um ihn herum betrunken sind. Es erfordert schon besondere Strategien und ein gehöriges Maß an Macht über die eigenen Schwächen, um sich als einzig nüchterner Homo Sapiens unter einer Horde in einen lange vergangenen Urzustand zurückgefallener betrunkener Troglodyten nicht fehl am Platze zu fühlen und der Verlockung zu erliegen, ebenfalls zur degenerierenden Zauberflasche zu greifen.
Es gibt Zeiten, da gleicht das Leben eines Barmannes einer einzigen, schier endlos langen Nacht - beinahe wie zu Zeiten der schon erwähnten nachtaktiven Beutelratte. Gerade im Winter sieht man oft tagelang kaum einmal das Sonnenlicht, man verpennt buchstäblich den Tag, um nicht zu sagen den Großteil der Jahreszeit. Das ist ein hoher Preis für ein Leben, das ohnehin so völlig anders ist, als dasjenige der meisten anderen Menschen.
Doch abgesehen von diesen gravierenden Nachteilen existieren natürlich auch schlagkräftige Vorteile, ohne die wohl ein niemand sich dazu nötigen lassen würde, des Nachts freiwillig zu arbeiten. Ein besonderer Vorzug der Nacht: in ihrem Verlauf passieren die interessantesten, kuriosesten und denkwürdigsten Dinge, die man sich selbst mit einer noch so lebhaften Fantasie nur schwerlich würde ausdenken können. Man verdient aber im Regelfall auch mehr Geld, denn nicht nur, dass kräftige steuervergünstigte Zuschläge auf einen warten, auch die Trinkgeldfreude der Gäste ist gegenüber dem Tagesgeschäft meist deutlich erhöht. Aber der verlockendste Faktor für mich ist und bleibt diese in der Luft liegende Magie, diese besondere Stimmung, in der sich Menschen einige Stunden nach Einbruch der Dunkelheit befinden und die sie manchmal zu Handlungen und Ideen verleitet, an die sie des Tags nie und nimmer denken würden.
Eine lustige Nachtgeschichte, die mir gut in diesem Zusammenhang in Erinnerung geblieben ist, ereignete sich eines Tages in einem großen Wellnesshotel in einem kleinen Kaff irgendwo im tiefsten Bayern . . .
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Von 22 bis 6 Uhr wurde die Rezeption in diesem Hotel, die sich direkt gegenüber der großen Hotelbar befand, von einem, an Wochenenden von zwei Nachtportiers besetzt. Die einzigen beiden Männer, die für diese Position engagiert worden waren, hatten während der langweiligen und meist ereignislosen Nacht lästigen Papierkram zu erledigen und mussten in regelmäßigen Abständen einen Kontrollgang durch bestimmte Bereiche des Hauses durchführen. Zu diesen kontrollbedürftigen Arealen zählten u. a. die Notausgänge, der Wellnessbereich und die ebenfalls dort befindliche Poolanlage.
An einem normalen Wochentag, die Rezeption war wie gewohnt mit nur einem der beiden Portiers besetzt, standen mein etwas jüngerer Kollege und ich gelangweilt in der nur sporadisch mit Gästen besiedelten Bar und drehten Däumchen. Es war ein überaus träger Abend gewesen, der so rein gar nichts zu bieten gehabt hatte, das in irgendeiner Weise erinnerungswürdig gewesen wäre. Irgendwann, es muss gegen 1 Uhr morgens gewesen sein und wir bereiteten uns bereits ungeduldig auf die Schließung der Bar vor, kam Hans, der für diese Nacht eingeteilte Portier langsam vor den Tresen geschlurft und blieb ratlos vor uns stehen.
Ein Detail, das von unbedingter Wichtigkeit ist, besteht darin, dass Hans, wohl Mitte 50, auf beiden Ohren taub war, daher zwei Hörgeräte trug und selbst mit diesen Hilfsmitteln nur überaus schlecht hören konnte. Oft musste man ihm eine Sache zweimal erklären, bevor er endlich verstand, was man von ihm wollte. Er war wohlgemerkt keineswegs ein Dummkopf, er hörte einfach nur furchtbar schlecht.
Mein Bartender Kollege und ich starrten nun also den vor uns stehenden schwerhörigen Hans fragend an, bis dieser uns mit hängenden Schultern sein Anliegen offenbarte:
Die Dame von Zimmer 315 hatte zum wiederholten Male bei ihm an der Rezeption angerufen, da offenbar unweit ihres Zimmers, vielleicht gleich nebenan, möglicherweise auch gegenüber, ein Hund immer und immer wieder kläffte und winselte. Der hellen Stimmlage nach zu urteilen, musste es sich, wie die Dame meinte, um einen recht kleinen Hund halten. Jedenfalls hielt er sie nun schon seit einer Viertelstunde und mehr vom Schlafen ab, und dies sei namentlich in einem Wellnesshotel schließlich eine Ungeheuerlichkeit. Wie gesagt war es zu diesem Zeitpunkt etwa 1 Uhr nachts.
Hans war nun also nach dem ersten dieser Anrufe, es waren derer mittlerweile drei, mit seinem ihm eigenen Tempo in die dritte Etage geeilt und hatte sich nach dem nachtaktiven Hund umgehört. Nach einigen Minuten des Lauschens musste er jedoch feststellen, dass er nichts feststellen konnte, entweder weil der Hund endlich selbst zu müde zum Winseln geworden war, oder aber das Geräusch einfach zu leise für seine defekten Ohren war. Also trotte Hans wieder hinab, nur um wenige Minuten später erneut von der entnervten Dame von Zimmer 315 angerufen zu werden, ein zweites Mal in den dritten Stock zu eilen und mit demselben Ergebnis, nämlich keinerlei Hundelaute ausmachen zu können, wieder seinen Posten am Empfang zu beziehen.
Nun stand der arme Kerl resigniert vor uns und bat darum, einer von uns jungen Kerlen, mit ebenso jungen wie funktionstüchtigen Ohren ausgestattet, möge sich doch einmal hinauf begeben um der leidigen Sache nachzugehen.
Da die Hotelbar zu diesem Zeitpunkt mittlerweile menschenleer war, beschlossen mein gelangweilter Kollege und ich, gemeinsam nach diesem mysteriösen Hund zu fahnden. Dieser kleine unscheinbare Auftrag kam uns als Abwechslung durchaus nicht ungelegen und so begaben wir uns hinauf zu Zimmer 315.
Uns möglichst leise verhaltend, huschten wir im Umkreis des fraglichen Zimmers von Tür zu Tür und lauschten einige Sekunden lang angestrengt. Tatsächlich waren auch unsere vollkommen funktionsfähigen Ohren scheinbar nicht dazu in der Lage, den nervtötenden kleinen Kläffer zu lokalisieren. Es war nicht das geringste Geräusch zu hören. Achselzuckend sahen wir uns an und begaben uns nach etwa zehn Minuten auf den Weg hinunter in die Eingangshalle.
Doch dann, just als wir uns zum Gehen wandten, wir befanden uns gerade an der Tür direkt gegenüber von Nummer 315, entdeckten wir endlich doch noch die Quelle dieser ungeheuerlichen nächtlichen Ruhestörung – und auch des Rätsels überraschende Lösung.
Kaum mehr zu vernehmen war die sich in ekstatischer Glückseligkeit verlierende helle Stimme einer Frau aus dem Zimmer zu hören: „Aaaaaahhhh, aaaahhh, aaahh . . .“
Unmittelbar nach unserer erfolgreich verlaufenden Spurensuche stellte der „kleine Hund“ sein Winseln endlich ein und auch die genervten Anrufe von Zimmer 315 hörten für diese Nacht auf. Hans konnte sich wieder seinem langweiligen Papierkram widmen und mein Kollege und ich begaben uns vergnügt und mit einem wie in Stein gemeißelten Grinsen in den wohlverdienten Feierabend.
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