Einleitung
Zur Einführung: Grundlinien der Geschichtsschreibung über die Schweiz
1 Der Bund von 1291
2 Wilhelm Tell
3 Die Erbfeindschaft der österreichischen Vögte
4 Ein einzig Volk von Brüdern
5 Die faktische und die juristische Unabhängigkeit
6 Neutral seit Marignano
7 Ein Volk in Waffen
8 Die schreckliche Franzosenzeit
9 Die verleugnete Revolution
10 Willensnation
11 Direkte Demokratie
12 Die humanitäre Tradition
13 Stachelschwein im Réduit
14 Schweizerische Freiheit
15 Die Schweiz – ein Sonderfall?
Ausblick
Anmerkungen
Bibliografie
Zeittafel Schweizer Geschichte
Namens- und Ortsregister
Beinahe jedes Interview, in dem ich zur schweizerischen Geschichte befragt wurde und werde, spricht schweizerische Geschichtsmythen und ihre anhaltende Wirkung an. Und beinahe jeden Artikel, den ich zu diesem Themenfeld in schweizerischen Printmedien veröffentliche, illustrieren die Redaktoren (und nun auch die Verleger des vorliegenden Buches) mit irgendeinem Kupferstich des Bundesschwurs oder mit einer Fotografie aus dem Zweiten Weltkrieg. Das sagt einiges aus über das Geschichtsbild heutiger Journalisten. Vermutlich liegen sie nicht ganz falsch, wenn sie auch den meisten ihrer Kunden unterstellen, dass diese die schweizerische Geschichte auf zwei Phasen des heldenhaften Widerstands gegen ausländische Bösewichte reduzieren: die habsburgischen Vögte im glorreichen Mittelalter, die Nazischergen im totalitären Zeitalter. Das populäre geschichtliche Selbstbild beruht nicht zuletzt darauf, dass der Rest der eigenen Geschichte unbekannt ist. Um schweizerische Geschichte(n) korrekt zu vermitteln, muss man deshalb nicht nur die genannten Feindbilder hinterfragen, sondern auch die (Wissens-)Lücken zwischen diesen Phasen füllen. Deshalb sieht sich für diese Aufgabe vor allem der Historiker der Frühen Neuzeit gefordert. 1
Muss er zugleich Mythen stürmen? Wer Schweizergeschichte verkaufen will, ob Redaktor oder Verleger, der liebt die Gegenüberstellung von althergebrachten Mythen und fortschrittlicher Aufklärung darüber, was wirklich dahinterstecke. Diese Konfrontierung ist auch nötig, und ihr widmet sich dieses Büchlein unter anderem. Dennoch behagt mir das abgedroschene Reden vom «Mythos» und seiner «Entlarvung» nicht. Der umgangssprachliche Wortgebrauch suggeriert ein allzu enges, abwertendes Verständnis von Mythos: falsche, unreflektierte und überlebte Vorstellungen, die es zu überwinden gilt. Mythen eröffnen jedoch zum einen gerade in ihrem langsamen Wandel Zugänge zur Gedankenwelt und zur Geschichtskultur der Vergangenheit – allerdings nicht der Epoche, über die sie erzählen, sondern der Zeiten, in denen sie erzählt wurden. Zum anderen drücken mythische Erzählungen das historische Selbstbewusstsein einer (politischen) Gemeinschaft aus und sind insofern unverzichtbar und unersetzlich. Darin stimme ich gerne Peter von Matt zu: «Die Vorstellung, man könne ohne mythische Erzählungen, Bilder und Zeichen leben, ist eine Täuschung, sowohl für den Einzelnen wie für die Gesellschaft. Sie beruht auf einem seinerseits mythischen Begriff von Wissenschaft.» 2Diese Vorstellung verkennt auch, dass Halbwissen und Fehleinschätzungen, die zu eingängigen Deutungsmustern gerinnen, eine unvermeidliche Realität darstellen. Solche «Komplexitätsreduktionen» erfolgen gerade in den hochdifferenzierten und unüberschaubaren modernen Gesellschaften. Diese wollen ihr Schicksal nicht einer kleinen Zahl von Fachleuten überantworten, sondern demokratisch selbst darüber bestimmen. Es sind keine gründlichen Physikkenntnisse gefordert, um sich eine Meinung darüber zu bilden, ob Atomkraftwerke wünschenswert sind oder nicht, und diese Überzeugung im politischen Prozess zu vertreten.
So wenig ein Studium der Physik für die politische Teilhabe Voraussetzung ist, so wenig ist es eine professionelle Ausbildung in den Geschichtswissenschaften. Gemeinsame Bilder von der Herkunft und Vergangenheit, auch mythische, tragen aber dazu bei, dass eine politische Werte- und Solidargemeinschaft sich immer wieder neu begründet. Wer sich über eine gemeinsame Vergangenheit mit einer Gruppe Mitmenschen, mit Mitbürgerinnen und Mitbürgern verbunden fühlt, für den reicht es, wenn vereinfachende und identitätsstiftende Kontinuitäten die Brücke dorthin schlagen. Zu solchen gemeinschaftsbegründenden Erzählungen tragen viele Menschen bei und zumeist durchaus kontrovers: Zeitzeugen und solche, die es vermeintlich waren; Schullehrer und Journalisten; Politiker, manchmal auch Richter, die über die Leugnung von Menschenrechtsverbrechen urteilen; Leserbriefschreiber und Verfasser von Dreh- und Schulbüchern, Schautafeln und Museumskatalogen. Beim Prozess der kollektiven Sinnstiftung ist der wissenschaftlich ausgebildete Geschichtsforscher nur ein Akteur unter vielen. Der wichtigste ist er höchstens insofern, als er gegen andere Positionen nicht bloss seine Meinung formuliert, sondern Resultate, die auf systematischem Weg durch die Auswertung möglichst umfassender Quellenbestände gewonnen wurden und einen – stets vorläufigen – Forschungsstand unter den Fachleuten repräsentieren. An diesen Forschungsergebnissen kann der Historiker die vielen Meinungen und Wissensbrocken messen, die seine Zeitgenossen sich deutlich leichter aneignen und zu Kausalitäten verbinden können als die Prozesse bei der Kernspaltung. Orientieren muss er sich dabei an den methodischen Standards, etwa der Quellenkritik, wie sie in einer internationalen Gemeinschaft von Fachleuten gelten; und nicht an den Erwartungen seiner Landsleute, die ihre einfachen und eingängigen Erzählungen – eben die Mythen – jeweils selbst im öffentlichen Streitgespräch ausbilden und anpassen müssen.
Hier fällt dem Historiker eine Aufgabe zu, die der Identitäts- und Sinnstiftung oft zuwiderlaufen kann: Er kritisiert Überlieferungen, die vertraut sind, einen erkennbaren Bogen in die Vergangenheit schlagen und damit Sicherheiten bei der Gestaltung der Zukunft versprechen. Volkstümliche Geschichtserzählungen, «Geschichtsmythen», greifen auf Wissensbestände zurück, die als plausibel und bewährt gelten. Andernfalls vermöchten sie nicht auf Dauer Orientierung zu schaffen und ein kollektives Selbstverständnis auszudrücken. Dafür beschränken sie sich in der grossen Menge des Überlieferten gezielt auf einige historische Phänomene, betonen die einen Aspekte, drängen andere in den Hintergrund oder vergessen sie. Denn es soll weniger der Wandel einer Gemeinschaft analysiert als ihr Wesen erzählt werden. Geschichtsmythen sind letztlich unhistorisch, insofern sie Begebenheiten wiederholen und vergegenwärtigen, die in der Vergangenheit spielen, aber jenseits ihres historischen Kontextes zeitlose Gültigkeit beanspruchen. Darin ist ein Geschichtsmythos konservativ, auch dann, wenn er im Namen einer «progressiven» Partei formuliert wird: Er schreibt die Vergangenheit so fest, dass ihre Erzählung weder modifiziert werden soll noch kann.
Das Selbstbild, das sich aus diesem selektiven Umgang mit der Vergangenheit ergibt, ist tendenziell gefällig. Es muss dies auch sein, weil Selbstbewusstsein bei Kollektiven wie bei Individuen auch darauf beruht, dass man eigene Schwächen nicht gegen aussen betont, sofern man sie überhaupt selbst zu erkennen vermag. Doch das Ausblenden schafft diese Mängel nicht aus der Welt. Gerade deshalb brauchen Mythen auch eine kritische Geschichtswissenschaft als Korrektiv, das aufzeigt, was verdrängt wurde oder nicht mehr zeitgemäss ist, was den Aussenstehenden nicht mehr überzeugt und höchstens in der Nabelschau plausibel wirkt. Wirklich selbstbewusst und für andere berechenbar ist nur, wer Selbst- und Aussenwahrnehmung in eine solide Beziehung zueinander zu bringen weiss. Auch das gilt für die Individualpsychologie ebenso wie für diejenige der Völker.
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