Erwischte mich Hugos Mutter alleine, offenbarte sie mir: „Der letzte Sonntag war so friedlich. Niemand störte uns.“
Zu erwähnen, wer als Störfaktor galt, brauchte sie nicht. Kinn vorgerückt und Wangen eingezogen durchbohrte sie mich mit Blicken. Auf mich wirkte sie wie eine harte, unversöhnliche Frau, die ihr Haus in tadellosem Zustand hielt und nie Freude über irgendetwas empfand, aber keinesfalls als aufopfernde Mutter.
Manchmal präsentierte sie mir ihr Silberbesteck oder sie legte mir ihr fein säuberlich geführtes Haushaltungsbuch vor. Schlich sich ausnahmsweise eine Differenz ein, korrigierte sie diese mit: „Taschengeld Ulrich“, denn verantwortlich waren nur die Anderen.
Wie ein Ehrenabzeichen trug sie ihre eingebildete Lebensmüh auf der Brust. Beständig darauf bedacht auf den Schultern ihrer Familie getragen zu werden, benutzte sie für den Kampf um Beachtung ihre eigenen Söhne.
Das kleinste Vergehen ihrer Kinder sah sie als persönliche Quälerei an und wurde abends als Beweis für ihre Strapazen dem Vater berichtet, der dann abstrafte.
Wem kann ein Kind noch vertrauen, wenn es von der eigenen Mutter verraten wird?
Im Frühherbst wurde ich volljährig, und damit stand mir ein Tag bevor, den wir lange im Vorfeld geplant hatten. Meine Mutter nähte mir für diesen Ehrentag ein Kleid aus blauer Seide. Viel Stoff benötigte sie nicht, da es für das damalige Modediktat nicht kurz genug sein konnte.
Unsere Geburtstage feierten wir immer im Kreis einer großen Anzahl von Freunden. Selbstverständlich sollte Hugo dabei sein. Da ihm allerdings der Gedanke, dass noch andere Gäste anwesend sein würden, nicht passte, lästerte er solange über meine Freunde, bis ich eingeschüchtert darauf verzichtete, sie einzuladen.
Der Morgen des großen Tages begann vielversprechend. Ein wundervoller Spätsommertag, warm und doch erfrischend, kündigte sich an. Ich liebte Geburtstage. Mit gutem Gewissen auf der faulen Haut zu liegen, und dabei Gratulationen und Geschenke entgegenzunehmen, versetzte mich in Höchstform.
Früh verzog sich meine Mutter in die Küche, um mein Lieblingsessen zu kochen, wobei sie sich ein wenig verhalten über die geringe Anzahl der Anwesenden äußerte.
Endlich volljährig! Die Freude war groß, obwohl ich nicht so genau wusste, welche Besserung ich mir davon versprach. In unserem Zuhause waren wir nie eingeschränkt, uns wurden selten Vorschriften gemacht. Vater liebte zwar den Satz: „Solange ich bezahle, habe ich das Sagen“, aber trotzdem bezahlte er problemlos, murrte selten.
Im neuen Kleidchen saß ich strahlend da, ließ mir gratulieren und öffnete meine Geschenke. Aus der Küche roch es vielversprechend, als mir Hugo um elf Uhr am Telefon mitteilte: „Ich komme nicht. Mutter erlaubt es nicht.“
Der Tag, an dem ich volljährig wurde, war der einzige Geburtstag, den ich ohne Gäste feierte und an dem ich weinte.
Leider wurde ich nur voll an Jahren und nicht an Verstand. Die negative Herrscherin hatte gesiegt.
Heute habe ich mir einen Ruhetag verschrieben und demütig warte ich, bis der Tag vorüber zieht. In gleicher Weise wie ich es auch die nächsten Jahre halten werde, da mein Leben ohne Aram so flach und überblickbar geworden ist, dass ich bis zu meinem Grabstein sehen kann.
Die Hotelanlage mag sich nicht verändert haben, ich hingegen bin nicht mehr dieselbe. Meine alte Identität habe ich wie eine Schlangenhaut abgestreift. Heute leiste ich mir schon mal einen Kaffee, falls ich Lust dazu verspüre, was jetzt der Fall ist.
Armer reicher Hugo. In der Hoffnung, die Wände seines Gefängnisses würden durch ein gefülltes Bankkonto zurückweichen, spaltet er jeden Franken.
Wie trostlos muss es für einen Narzissten sein, wenn das Umfeld ihn durchschaut hat und der Sockel zusammenbricht, auf den er sich mühsam gewuchtet hat.
Dass dies eines Tages geschehen wird, gehört leider nicht zu seiner Gedankenwelt. Bis jetzt fühlt er sich immer noch als Gottes Geschenk an die Frauen. Doch irgendwann wird auch sein Alter zum Problem. Dann wird’s teuer.
„Du stehst am äußersten Rand der Klippe und von dort gibt es bald nur noch eine Richtung“, warnte ich ihn. „Du wirst doch nicht annehmen, dass dir noch irgendjemand deine Lügen abnimmt, dass du immer mit allem durchkommst.“
Aber er arbeitet weiterhin an seinem Lügennetz. Es ist schwer, mit einem Narzissten zu argumentieren.
Narcissus, der göttergleiche Sohn eines Flussgottes und der Nymphe Liriope, wurde von allen geliebt. Doch ihn rührte keine Schönheit, sein Ohr blieb taub für die Seufzer der Mädchen. Seine Aufmerksamkeit galt allein seiner Person. Er wollte nur lauschen, wie vollendet, wie unerreichbar er war. Die Liebe der Nymphe Echo erhörte er nicht. Narcissus, der ihr niemals Komplimente überbrachte, die sie wiederholen konnte, verlor bald sein Interesse an ihr.
Vor Kummer über ihre unerwiderte Liebe starb die Nymphe Echo. Aus Mitleid verwandelten die Götter sie in einen Felsen und bestraften den Kaltsinn des Narcissus.
Eines Tages beugte er sich vom Jagen erhitzt an einer kristallklaren Quelle vor. Im See sah er ein Bild von unendlicher Schönheit und sein Herz wurde entzündet. Er wollte die Gestalt küssen, sie umfassen, doch sie verschwand. Dann sah er sie wieder und sie erwiderte seine zärtlichen Blicke, sein Lächeln. Sie winkte wie er, breitete die Arme aus wie er. Von namenloser Sehnsucht ergriffen, die nie gestillt werden konnte, verschmachtete Narcissus und starb.
Eine Blume, die Narzisse, steht jetzt an der Stelle, wo er einst geseufzt hatte und im Liebesschmerz vergangen war. Die Nymphe Echo aber wurde niemals vergessen und ist bis heute zu hören.
Die flammende Sehnsucht nach dem Unerreichbaren zehrt das Leben auf. Nur der Tod kann sie stillen.
Seither schmückt diese schattenbleiche Blume unsere Gräber.
Der Herrscher, Karte IV der Heldenreise
Zur Aufgabe des Herrschers gehört es, aktiv in Geschehnisse einzugreifen. Sein Ziel ist Regelmäßigkeit, Ordnung, Klarheit und Umgang mit Kraft und Energie. Der Herrscher schenkt uns nichts. Wir sind es, die jetzt die Dinge in die Hand nehmen, und Struktur in unser Dasein bringen. Die hohe Kunst des Lebens wird gefördert.
Gelingt es uns nicht, herrscht er über uns.
***
Aram
Der mittlerweile erwachsene Aram rebellierte. Brachte er als Junge noch ein begrenztes Maß an Gehorsam auf, nahm Anweisungen als gegeben hin, hinterfragte er jetzt alles. Seine heroischen Phantasien endeten schlagartig an der Akademie, die eher einem Gefängnis mit Freigang glich, als einer gehobenen Lehranstalt. Hier unterwiesen sie ihn nicht nur in höherer Bildung, sondern auch in niedrigen Künsten, die der Genfer Konvention nicht standgehalten hätten. Bald erkannte er, dass er den falschen Platz gewählt hatte.
Drei Beweggründe motivieren einen Menschen, eine Militärlaufbahn einzuschlagen: Patriotismus, Gene, oder sie suchen einen legalen Weg, um zu töten.
Zwei davon trafen auf Aram zu. Nur trat er Machthabern mit ständigem Misstrauen entgegen, und er ließ sich schwer führen.
Die ersten Wochen bestanden aus Schikanen der übelsten Art. Aram wurde noch härter gepeinigt als die anderen, denn es war keine leichte Aufgabe, ihn zu brechen. Selbst im Halbschlaf war er noch ein Gegner, dem man lieber nicht zu nahe kam.
Führten seine Kameraden am Wochenende stolz ihre Uniformen spazieren, jagten sie ihn durch die Bahnen, ließen ihn Liegestützen stemmen, Hauswand rauf, Sprung in den Dreck, Gesicht in den Matsch, und nochmals und nochmals, bis er vor Erschöpfung heulte. Wie ein Wellnessurlaub fühlte es sich nicht an. Er wurde solange gequält, bis er lernte, die Faust im Sack und nicht vor der Nase der Ausbildner zu ballen.
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