Ich gab ihm eine Medizin, aber ich log ihn an. Es war Granatapfeltee.
Jeden Morgen erwachte ich, wenn Amun in seiner goldenen Barke über den Himmel ruderte, doch trotz der Sonnenstrahlen war mein Herz kalt wie Asche. Nur in Ariids Armen fühlte ich grenzenloses Glück.
Erst viele Monde später sah ich ihn wieder. Schließlich kam der Tag, an dem er in königlichen Linnen gekleidet, mit durch eine schwere Goldkette geschmücktem Hals und einer Peitsche in der Hand - das Zeichen für die erlangte Offizierswürde - in unsere Lehmhütte trat. Er legte meiner Mutter sein Kleiderbündel vor die Füße, wodurch wir als verheiratet galten.
Ein Offizier verdient gutes Gold. Er kaufte uns ein geräumiges Haus und für die Eltern das kostbarste Gut: eine Grabstätte. Damit war ihre Unsterblichkeit, ihr Sein im ewigen Leben gesichert.
Ariid und seine Soldaten bewachten den Pharao. Seit 40 Jahren herrschte kein Krieg mehr. Inzwischen fürchtete Ariid einen Angriff, weil seine Männer schwach und verweichlicht waren und nicht mehr zu kämpfen vermochten.
Doch dann bat Syrien um Hilfe, um die Wüstenvölker zurückzudrängen. Ariid trieb seine Soldaten unbarmherzig durch das heiße Land, damit sie zu erschöpft waren, um vor der Schlacht zu fliehen.
An der Spitze seiner Armee führte er die Männer gegen den Feind. Er war furchtlos, denn sein Gott schützte ihn, da er noch für große Taten gebraucht wurde.
Als Held und als Sieger kehrte er zurück. Seither trägt er eine goldene Peitsche und Sandalen mit golddurchwirkten Riemchen, die ihn als Heerführer ausweisen.
Doch Ariid zog erneut in den Krieg. Nubien greift uns an.
Ich fürchte mich, denn nie würde sich Ariid, wie das bei Führern üblich ist, in einer Sänfte hinter dem Heer hertragen lassen. Deshalb bete ich im Tempel.
Fräulein beurteilte den Aufsatz als: „Absoluten Blödsinn.“
Zusammen mit dem ersten Hormoncocktail wurde nicht nur ich reifer, sondern auch mein unsichtbarer Freund älter, und wir verliebten uns. Den ersten Kuss bekam ich von ihm, und er küsste herrlich. Er war mein unbesiegbarer Krieger, wurde zu einem jener Helden, mit denen ich aufwuchs. Verstohlen suchte ich auch außerhalb der Traumwelt nach ihm.
„Ich werde einmal einen schwarzhaarigen Mann heiraten“, erklärte ich meiner Mutter.
„Na ja“, antwortete sie. „In deinem Alter träumte ich von einem blonden Gladiatoren, und geheiratet habe ich einen dunkelhaarigen Schweizer.“
Mutter wuchs in Italien auf, was ihren Wunsch nach einem blonden Mann erklärte.
Demnach wäre meine Muttersprache Italienisch gewesen. Wäre! Leider benutzten meine Eltern sie nur, wenn sie sich uneinig waren. Das wiederum verstand ich bald und ich lernte ziemlich gut, auf Italienisch zu schimpfen; in Italien durchaus brauchbar. Die Muttersprache meines Vaters war hingegen Französisch, aber auch davon übernahm ich nur die wenigen Brocken, die in unseren Alltag Einzug fanden.
„Contenance, je te prie.“
„Devant! Devant les enfants.“
Im gleichen Alter, in dem Mädchen in anderen Kulturen bereits verheiratet waren, weil sie als reif für die Ehe erklärt wurden, sobald sie kochen gelernt hatten, suchten wir noch heimlich Antworten und fühlten uns dabei verderbt. Wir wurden nie aufgeklärt und es wurde mit aller Macht dafür gesorgt, dass wir das nicht selber tun konnten.
Meine Antworten suchte ich in Büchern, und diese begleiteten mich auch bis unter die Schulbank. In der Folge konfiszierte das Fräulein den Roman „Lady Chatterley“ mit deutlichen erotischen Passagen, die mich begeisterten. Damals galt das Buch als pornografisch und schaffte es bis vor Gericht. Eine unbezahlbare Werbung! Heute würde es bestenfalls als Diskussionsbasis für Zwölfjährige dienen.
Der von der freudig empörten Lehrerin herbeizitierte Vater fragte: „Wieso wissen Sie denn, dass es sich um Pornographie handelt?“
Nicht gerade eine diplomatische Meisterleistung.
In vielen Ländern gilt Sexualität als ebenso existentiell wie essen und trinken. Nur im Westen dezidierte sie die Kirche im Laufe der Jahrhunderten zur Sünde.
Da wir dieser Verlockung nur schwer widerstehen können, floss der Ablass zufriedenstellend. Auf diese Weise gewährleistete der Klerus das Fortbestehen der kirchlichen Pracht. Um mit gutem Beispiel voranzuschreiten, müssen bis heute die Würdenträger der katholischen Kirche durch das Zölibat leiden.
Mit der Zeit änderte sich auch bei uns dieses Dogma. Die sexuelle Revolution startete gerade rechtzeitig. Ich half eifrig mit, demonstrierte gegen Atomkraft und die Pelzindustrie, kleidete mich in scheußlich bunt gehäkelte Gewänder, knüpfte Makramee, flocht Blumen ins Haar und begann als Zeichen der Ablehnung des Systems zu Rauchen. Was ich am System ablehnte, wusste ich nicht so genau.
Die Hohepriesterin zeigte mir meine Intuition, die mich noch während vielen Jahren verwirrte, da ich alle von mir erahnten Vorkommnisse für eine Anhäufung von Zufällen hielt.
Sie schenkte mir die Gabe des Zuhörens, der Ruhe und des Beobachtens.
Nach einem kleinen Lunch mit schweizerischen Preisen besuche ich das Hotel Palais. Ende des 19. Jahrhundert erbaut, thront das Gebäude in einer Gegend mit prächtigen Villen. Die k. u. k. Monarchie lässt grüßen.
Die Luft ist mild und samtig, Citrus- und Feigenbäume tragen reiche Ernte. Im Garten, der sich über weitläufige Terrassen bis zum Meeresspiegel erstreckt, warten unter Pinienbäumen alte Steintische mit Bänken auf mich, Springbrunnen plätschern, und über eine steinerne Balustrade blicke ich aufs Meer. Für diesen Garten fällt mir nur ein Synonym ein: unglaublich schön.
Vor zwei Stunden bin ich mit arrogantem Schritt durch die Hotellobby stolziert und habe dabei kopfnickend irgendwelche Unbekannten gegrüßt, die unsicher zurück lächelten. Mein Plan ist aufgegangen. Kein Angestellter hat mich aufgehalten.
Hätte ich damals auf Fräulein gehört und gelernt, anstatt meine Zeit mit Träumen zu verbringen, könnte ich mir dieses Feriendomizil auch leisten. Vielleicht.
Manchmal überlege ich, für welchen Studiengang ich mich entschieden hätte. Je nach Lebenssituation verändern sich meine Interessen. Nur etwas bleibt konstant. Sprachen wären es mit Sicherheit nicht geworden. Wenn ich einmal mein Buch des Lebens Petrus übergebe und er mit gerunzelter Stirn ausruft: „Oje. Ach. Was hast du dir bloß dabei gedacht! Jetzt bleibt mir keine andere Wahl mehr, als dich mit einer besonders heißen Hölle zu bestrafen. 500 Jahre Sprachlabor!“, dann, ja dann, hat er mich unerträglich gebüßt.
Doch im Moment besitze ich kein Recht, hier zu sein. Trotzdem habe ich mich in die Zeit versetzt, als meine Großmutter in ihrer Kindheit in diesem Hotel ein paar Tage verbracht hat.
Mit ihren Augen habe ich den Park betrachtet, sie beobachtet, wie sie sittsam hinter ihrer Mutter her trippelt, die stets darauf bedacht ist, den Schatten nicht zu verlassen. Kein Flecken nackte Haut ist von ihrer Mama zu sehen. Sex ist tabu, jegliche Freude verboten, Kinder gelten nicht mehr als ein Statussymbol. Sie nicht hören, nicht sehen, nicht verhätscheln, ist die Erziehungsvorgabe, aber meine Großmutter hat trotzdem gemault. „Die gute alte Zeit“ war nie in ihre Erzählungen eingewoben. Von ihr hörten wir: „Als es noch keine Antibiotika gab und man an Zahnschmerzen starb. Als eine Krankheit nicht nur die Alten und Schwachen dahinraffte, sondern halb Europa. Als man von der Schulbank direkt auf die eheliche Matratze geworfen wurde. Was soll denn damals gut gewesen sein?“
Jede Bank habe ich getestet, auf jedem lauschigen Platz von der Vergangenheit geträumt. Und ich habe Liebespaare gesehen. In der Hauptsache Liebespaare. Hand in Hand oder eng umschlungen schlendern sie umher, küssen einander und vergessen die Welt.
Читать дальше