Am Wochenende gingen wir zwar ab und zu aus, aber Wilfrieds Werkstatt hatte auch samstags bis mittags geöffnet. Meistens blieben wir doch zuhause. Nur Essengehen am Samstagabend war etwas, das wir einmal im Monat taten. Meistens mit Silke und Florian, manchmal auch mit Ruth und Jens.
Danach kehrten wir auf ein Gläschen irgendwo ein und wenn wir dann gegen Mitternacht nach Hause kamen, fielen wir ins Bett. Sonntags lungerten wir eigentlich nur herum. Der Spaziergang vor dem Kaffeetrinken war das Einzige, das uns von der Couch aufstehen ließ.
Und Montag begann dann der alte Trott.
Sex? Ich dachte, Tim hätte das Interesse daran völlig verloren. Da hatte ich mich wohl geirrt.
Es entfernte mich emotional von Tim. Da war Wut, da war Demütigung, da war Enttäuschung. Alles wurde zu einem Knäuel im Herzen, das immer schmerzhafter wurde. Seine Männerhöhle mutierte für mich zur Neandertalerhöhle. Ich hatte keinen Zugang mehr zu ihm und wenn ich ihn nun ansah, hüpfte mir nicht mehr das Herz im Leib, weil ich einen tollen und gut aussehenden Mann hatte. Alles, was ich jetzt sah, war ein alternder Mann mit primitiven Gelüsten, der sich nur noch für geile Weiber mit riesigen Brüsten interessierte und mich wohl nicht mehr liebte. Das traf mich am härtesten. Sein Verhalten war eigentlich nicht anders erklärbar.
Die Zeit direkt nach meiner Entdeckung war grauenhaft. Eine Arzthelferin muss voll konzentriert sein. Ich füllte schließlich Rezepte aus, ich trug Medikamente und ihre Dosierung ein, ich stach Nadeln in Armbeugen.
Manches Mal flüchtete ich mich in die Personaltoilette und brach in Tränen aus. Birgit fragte nicht, sie übernahm wortlos meine Aufgaben, bis ich mit frischem Mascara und einem hölzernen Lächeln wieder zum Vorschein kam. Sie dachte sicher, Tim und ich hätten Streit. Sie rechnete gewiss damit, dass ich eines Tages „mein Mann und ich lassen uns scheiden“ heraussprudelte. Aber so weit war ich noch nicht.
Dem Blinker hatte ich keine Nachricht zukommen lassen und wir hatten uns nun seit zwei Wochen nicht mehr gesehen. Aber je mehr ich darunter litt, dass mein Mann in jeder freien Minute zur Kellerassel mutierte (so nannte ich ihn jetzt), desto weniger Skrupel hatte ich, über Jörg nachzudenken. Jörg Blinker. Ich suchte und fand ihn in den sozialen Medien.
Über seinen Familienstand fand ich nichts heraus, aber sicher war auch er verheiratet. Oder wieder geschieden? Waren ja viele. Und wieder stach mir das Bild meines Rubbelgatten ins Herz. Zwei Stockwerke über ihm schlief seine Tochter. Und er ...
Eines Tages, fast drei Wochen später, passierte es dann. Ich hatte freitags gegen Mittag Feierabend und fuhr einkaufen. Im Kreisverkehr vor dem Supermarkt hatte sich ein kleiner Stau gebildet. Es ging nur im Schneckentempo voran. Ich fädelte mich resigniert ein. Nachdem drei Autos vor mir abgebogen waren, fand ich mich hinter einem Fahrschulauto wieder. Fahrschule Jörg Blinker. Immer benutzen!
Ich riss die Augen weit auf und da traf sein Blick im Rückspiegel auf mich. Wieder durchfuhr es mich heiß. Ich konnte ihn grinsen sehen. Er hob grüßend die Hand und drehte den Kopf etwas nach hinten. Er lächelte. Ich winkte eifrig zurück und strahlte ihn errötend an. Etwas in meinem Gesicht musste anders gewesen sein als vorher. Er schnauzte seinen Schüler an, ich hörte es durch das geöffnete Fenster.
„Nana, jetzt drehen wir noch eine Runde. Wann blinkt man im Kreisverkehr?“
Genau das tat ich jetzt, ich betätigte meinen Blinker und fuhr aus dem Kreisverkehr heraus, direkt auf den Supermarktparkplatz. Ich sah, wie Jörg interessiert den Kopf zu mir drehte. Nun wusste er, wo ich zu finden war.
Es dauerte eine halbe Stunde. Ich hatte gerade den Käseaufschnitt in den Einkaufswagen gelegt und studierte meine Liste, da bog der Herr Blinker um die Ecke.
Trotzdem ich mir recht sicher gewesen war, dass er mir folgen würde, erschrak ich zu Tode. Nun war es irgendwie entschieden.
„Na so was, Hallo“, grinste er. Es entspann sich etwas Smalltalk, den sogar Amelie hätte mit anhören können, aber unsere Augen führten ein ganz anderes Gespräch. Er konnte in meinen perfekt lesen. Ein Mann wie er konnte es riechen: Verzweiflung, Einsamkeit, Verbitterung, Bereitschaft.
Wir schwatzten über Amelies Fortschritte, lachten über die typischen Anfängerfehler: Motor abwürgen an der Ampel, falsch in die Einbahnstraße abbiegen. Dann sah er auf die Uhr.
„Die nächste Stunde steht an, aber heute Abend habe ich frei. Keine Dunkelfahrt. Vielleicht sollten wir irgendwo was trinken?“
Nun war mir wirklich heiß. Und kalt. Und übel. Und ich spürte, dass die Blume in mir neugierig den Kopf emporreckte.
„Ja, warum nicht?“, hörte ich mich sagen.
„Prima. Um acht drüben bei Plümels?“ Das war die einzige kleine Cocktailbar in der Stadt. Ich nickte. Er grinste noch einmal, hob grüßend die Hand und ging. Ich sah ihn noch beim Bäcker ein Brot kaufen, dann war er verschwunden.
Mechanisch legte ich die Sachen von der Einkaufsliste in den Wagen. Zum Glück, dachte ich, ist es hier passiert. Ich habe zu Hause ja gar nicht mehr, was man dazu so braucht.
Ich schob den Wagen in die Kosmetikabteilung. Kaltwachsstreifen, Lippenstift in knalliger Farbe, Nagellack, Körperpuder. Und Kondome.
Es regnete, aber ich ging trotzdem die lange Strecke zu Fuß zu Plümels. Es hatte sich ganz schön abgekühlt und ich trug eine leichte Jacke. Es waren nur noch wenige Menschen unterwegs, wohl wegen des Wetters. Ich hätte Zeit zum Nachdenken gehabt, aber ich wollte gar nicht nachdenken. Trotzdem blieb ich vor dem Fahrplan der Bushaltestelle stehen und starrte blicklos hinein.
Mein Herz klopfte wie verrückt. Ich war unglaublich nervös, so wie damals, als ich mich zum ersten Mal mit Tim verabredet hatte. Mein Magen knurrte, weil ich beim Abendessen nichts herunterbekommen hatte. Tim fiel das nicht auf.
Er hatte nicht mal bemerkt, dass ich das Haus verlassen hatte. Er saß wieder in seinem Würg-die-Python-Verlies. Amelie war drüben bei ihrer Freundin Janina.
Meine lange Dusche mit Beinrasur, das Styling der Haare und das neue Make-up - all das blieb unbemerkt. Genauso wie die duftende Körperlotion und das neue Parfüm.
Es interessiert wirklich niemanden, was ich mache, schoss es mir durch den Kopf. Man könnte meinen, ich wäre nicht verheiratet. Tim könnte auch mein Bruder sein!
Aber er war nicht mein Bruder.
Was ich hier tat, war Verrat. Zwar tat Tim etwas, das auch Betrug war, aber es war virtuell. Er betrog mich körperlich nur mit seiner Hand.
Was ich zu tun gedachte, war eine ganz andere Geschichte.
Ich stand lange vor der Bushaltestelle und noch länger vor der Bar, einen Schirm in der Hand und Gewissensbisse im Kopf. Was tat ich denn hier? Ich hasste Fremdgänger! Als Maik damals Silke betrog und verließ, da hatte ich ihm die Pest an den Hals gewünscht. Und jetzt? Jetzt machte ich das Gleiche.
Aber bei mir war es doch etwas anderes, dachte ich. Maik hatte einfach warm gewechselt, als er etwas Besseres gefunden hatte. Ich, ich war meinem Ehemann nicht mehr wichtig.
Ich bin nicht als Ehefrau und Mutter hier, dachte ich.
Ich bin als ich hier: Maren.
Maren bedeutet nur noch ihren Freundinnen etwas, aber keinem Mann.
Das gab den Ausschlag. Ich schloss den Schirm, schüttelte ihn aus, und drückte die schwere Eichentür auf.
Drinnen empfingen mich gedämpfte Musik und Kerzenschein von den Tischen. Nur über der Bar gab es eine schwache Beleuchtung. Plümels war gemütlich. Heute kam mir die knuffige kleine Bar zum ersten Mal auch intim vor.
Jörg saß in einer Nische weiter hinten, so wie ich schon vermutet hatte. Jetzt trug er keine Shorts, dafür eine schwarze Jeans, blaues Jeanshemd und eine schwarze Weste. Oh je, dachte ich, denn für Westen hatte ich eine Schwäche. Jetzt saß ich erst recht in der Falle.
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