Es war Sonntag. Der Hausherr stand am Fenster und betrachtete nachdenklich das Schauspiel der munter zu Boden tanzenden Flocken. Endlich hatte sich ein zur Jahreszeit passendes Wetter eingestellt. Weihnachten war inzwischen endgültig vorbei, ebenso der Jahreswechsel und Dreikönig. Das Kleinleinsche Eigenheim war bereits vollständig umdekoriert. Der Christbaum war abgeleert, das Lametta hatte Peter Kleinlein Faden für Faden fein säuberlich wieder abgenommen und eingepackt und die bunt glänzenden Kugeln wieder in ihren Schachteln verstaut. Die heiligen drei Könige, die frommen Hirten und die heilige Familie hatten sich wieder aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und ihren Ruheplatz in der geräumigen Schachtel mit der Aufschrift „Vorsicht zerbrechlich“ eingenommen. Der nun leere Stall stand für ein weiteres Jahr im Keller auf der ausrangierten Kommode von der Oma.
Die beschaulichen Tage waren zweifellos vorbei. Im Wohnzimmer dominierten mittlerweile bunte Luftschlangen, vom Korkenzieherhaselzweig hingen jetzt anstelle zuckersüß lächelnder kleiner Weihnachtsengel und der unvermeidlichen Minilichterkette an seidenen Fäden einige aus glitzernder Pappe gestanzte Sektflaschen herab. Im Aufwind der angenehm warmen Heizungsluft drehten sich farbige Stanniolspiralen um sich selbst. Der Fasching stand unmittelbar vor der Tür, die ideale Zeit, wieder etwas gute Laune in den Alltag zu bringen.
Inzwischen war das Mittagessen einschließlich des gemeinsam erledigten Abwaschs vorüber und die Kleinleins befanden sich gerade auf ihrem obligatorischen Verdauungspaziergang. Einmal rund herum um die Kleingartenanlage, ein paar Kilometer über verschneite Gehwege, vorbei an brachliegenden Feldern und schließlich zurück über den Kirchplatz. Dort gibt es einen kleinen Tümpel, der in vergangenen Zeiten der Feuerwehr als Löschweiher diente und nun bei schönem Wetter zu einer kurzen Rast auf einer der hölzernen Parkbänke einlädt. Die Bänke sind neu. Die Röthenbacher verdanken sie den Feierlichkeiten anläßlich des 900-jährigen Ortsjubiläums vor einem dreiviertel Jahr. Einer der wenigen bleibenden Gewinne, die die Gemeinde aus diesem Anlass ziehen konnte, ganz im Gegensatz zu dem höllenschlundartigen Haushaltsloch vom Ausmaß eines riesigen Vulkankraters, das die ausufernde Feier in die ohnehin nicht üppigen örtlichen Finanzen gerissen hatte. Als ob das nicht schon schlimm genug wäre, kommen zudem noch die viel peinlicheren Erinnerungen an die hinterhältigen Morde im Umfeld des Jubiläums hinzu, die die Feierlichkeiten nicht nur damals nachhaltig gestört hatten. So manchen Röthenbacher Bürger verfolgen sie noch heute im Schlaf.
Es schneite immer noch. Die Flocken tanzten angesichts der Windstille anmutig im Kreis, bevor sie sanft zur Erde schwebten oder auf den Mützen und Jackenkrägen der beiden Spaziergänger landeten. Es machte ihnen nichts aus. Im Gegenteil, sie erfreuten sich an dem herrlichen Anblick verschneiter Bäume und den kleinen flauschigen Häubchen, die der Schnee auf die Latten der Gartenzäune gezaubert hatte. Marga und Peter waren schon über eine Stunde unterwegs und bogen eben in den Eibenweg ein, als Marga, an einen der Bäume geheftet, ein Papier von der Größe einer Schreibmaschinenseite entdeckte. Zum Schutz vor der Nässe war es in eine Plastikhülle gesteckt und mit Reißzwecken in Augenhöhe befestigt.
„Wahrscheinlich iss jemand sei Katz entlaufn odder vielleichd hodd anner woss verlorn. Komm, schau mer amal, woss dou stäihd.“
Letztere Aufforderung galt Peter, dessen Neugierde sich diesbezüglich normalerweise in sehr engen Grenzen hält. Ihm war weder ein verirrtes Haustier zugelaufen, noch hatte er etwas Wertvolles gefunden. Doch seine Marga war bereits unterwegs und zog ihn unfreiwillig mit, da sie die letzten Meter bis nach Hause untergehakt gegangen waren. Eighengd, wie man in Röthenbach sagt. Schon nachdem sie die ersten Worte gelesen hatte sah sich Marga gezwungen ihre bisherige Theorie zu verwerfen. Hier war offenbar ein religiöser Fanatiker am Werk, wahrscheinlich ein eifriger Angehöriger irgendeiner äußerst obskuren, eventuell sogar gefährlichen Sekte, ganz sicher aber ein Mensch mit agressivem Hang zum Missionieren. Der Text, in übergroßer Computerschrift zu Papier gebracht, klang unversöhnlich und wirkte geradezu bedrohlich.
„Und der Herr spricht: Mein ist die Rache! Denn unter uns weilt das Böse, ein Feind von Gottes Kreatur. Doch wird der Herr zu Gerichte sitzen über den Sünder und den Frevler strafen. Er wird seine Engel aussenden mit flammendem Schwert. Den Änhänger des Satans wird Er in die tiefsten Tiefen der Hölle verbannen und seines Jammerns wird kein Ende sein.“
„Woss iss ner etz dess?“, entfuhr es Marga in der Aufregung, um gleich entschlossen hinzuzufügen: „Den Zeddl nimmi etz soford midd. Den zeichi morgn in Herrn Bfarrer, der muss doch dess unbedingd wissen. Suwoss fälld doch in den sein Zuschdändichkeidsbereich. Mir wern doch nedd etz aa nu solche religiösen Schbinner im Dorf haben odder gar an Derrorisdn! Dess hädd ja grad nu gfehld.“
Und nach einer kurzen Pause, die sie dringend brauchte um wieder einigermaßen zu Atem zu kommen, schob sie nachdenklich nach: „Und abber scho glei aso bösardich, woss ner dess für anner iss?“
Im selben Moment hatte sie den verdächtigen Wisch bereits energisch an sich gerissen, zweimal zusammengefaltet und in ihre linke Manteltasche gleiten lassen. In ihren Augen hatte in einem anständigen Dorf, wozu ihr Röthenbach eindeutig zählte, niemand außer dem Pfarrer das Recht, solche Bibelauszüge unter die Menschen zu bringen und darum handelte es sich bei dem sichergestellten Pamphlet ohne jeden Zweifel. Dafür hatte der schließlich studiert. Für Sektierer hatte sie als praktizierende und schon von klein auf eingeschworene Katholikin keinerlei Verständnis. Peter, dem solche verrückten Aktionen völlig egal waren, wenn nicht sogar komplett am Allerwertesten vorbeigingen, sofern man dies in dieser deutlichen Weise aussprechen darf, konnte nur über die Energie staunen, die seine Frau zur Abwehr dieses vermeintlichen Sakrilegs aufbrachte. Da er jedoch seine Marga in- und auswendig kannte wusste er natürlich, dass Widerspruch zwecklos war und so ließ er sie kommentarlos gewähren.
Auch am nächsten Morgen hatte sich die Marga noch nicht beruhigt, zumindestens nicht so weit, dass sie ihren alltäglichen Aufgaben in gewohnter Weise nachkommen konnte. Unmittelbar nach dem eiligst eingenommenen Frühstück verließ sie das Haus in Richtung Kirche, wo sie unverzüglich an der elektrischen Klingel des Röthenbacher Pfarrhauses Sturm läutete.
„Ja! Ich komm ja schon“, konnte man von drinnen eine ungeduldige Stimme vernehmen. Allerdings gehörte sie nicht dem Hochwürdigen Herrn Geistlichen Rat, dem eher gemütlichen Ortspfarrer Willibald Stiegler, sondern seiner seit kurzem im Amte waltenden neuen Haushälterin. Dazu ist es nötig zu wissen, dass nach dem unfreiwilligen Tod von Anneliese Lohmaier vor einigen Jahren, der Pfarrer sich nicht gleich aufraffen konnte zur Tagesordnung überzugehen und eine feste Nachfolgerin einzustellen. Irgendwie hatte sich in ihm wohl unterschwellig das Gefühl festgesetzt, dass es nicht schicklich sei, sich sofort nach Ersatz umzusehen. Er verhielt sich in dieser Frage nicht viel anders als ein Witwer, der sowohl aus kirchlicher, als auch aus traditioneller Sicht ja auch nicht im ersten Trauerjahr auf Freiersfüßen wandeln soll. Um allen Missverständnissen vorzubeugen: Das Verhältnis zwischen Pfarrer Stiegler und seiner getreuen Anneliese war durchaus nie erotischer oder gar sexueller Natur. Aber gemocht hatte er sie schon sehr. Sie war wohl eher die Tochter, die er aufgrund seiner Berufung niemals haben würde.
Da er aber trotzdem unmöglich vom Fleisch fallen dufte und weil der Haushalt eine ordnende Hand brauchte, hatten sich zunächst einige ältere Frauen der Gemeinde in den einschlägigen Tätigkeiten abgelöst. Das war zwar gut gemeint, führte aber letztendlich nur zu einem heillosen Durcheinander, einem schier unübersehbaren Chaos, das letztendlich seinen Höhepunkt in einem handfesten Skandal fand. Als nämlich eine der laienhaften, in Ehren ergrauten Helferinnen mit viel Enthusiasmus, aber keinerlei Ahnung von modernen Hilfsmitteln wie Computern oder gar Online-Terminplanern, eine vorgesehene Hochzeit zum falschen Zeitpunkt in den Wandkalender eingetragen hatte, da war es endgültig so weit. Das Fass war übergelaufen. Es kam zum Eklat. Das festlich herausgeputzte Brautpaar nebst einer großen Schar von Freunden und Verwandten hatte sich vor der verschlossenen Kirchentüre eingefunden und wartete vergeblich auf den Segen der heiligen Mutter Kirche, der aber wegen der ausgebliebenen Information des Pfarrers leider ausbleiben musste. Eine endgültige Beendigung der Vakanz war unverlich geworden. Und so sorgte Pfarrer Willibald Stiegler höchstpersönlich dafür, dass die größtmögliche alle denkbaren Lösungen nun schon seit einigen Monaten in Gestalt von Walburga Prell mit tüchtiger Hand im Pfarrhaus für Zucht und Ordnung sorgte. Willibald und Walburga! Fehlte nur noch ein Wunibald, dann hätte die Dreiheit der Geschwister aus dem englischen Wessex, die im frühen Mittelalter Franken erfolgreich missionierte, in Röthenbach auf perfekte Art und Weise eine Wiedervereinigung feiern können. Alle drei Missionare waren seither Heilige der römischen Kirche, ein Umstand, der auf unsere aktuelle Röthenbacher Walburga leider nicht zutraf. Die Aussichten, es auf die geheime Kandidatenliste des Vatikans für künftige Ernennungen und damit eventuell sogar die Aufnahme in die Allerheiligenlitanei zu schaffen, waren auch eher gering, um nicht zu sagen aussichtslos.
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