»Wenn ich könnte, wäre ich längst weg hier«, brachte sie heraus. In ihrem Herzen wuchs der innige Wunsch, Björn könnte sie von hier wegholen, für immer.
Ach, wie konnte sie jetzt daran denken. Würde Björn sie mit in sein Zuhause nehmen, sie verlöre den Kontakt zu ihrer besten Freundin.
Frida saß im Nähsaal 1, wo über zweihundert Näherinnen hintereinander in Reih und Glied hinter Bergen von Zuschnitten verschwanden. Dafür war Frida ausgebildet. Reni hingegen hatte ihre Lehre als Strickerin gemacht, der Näherinnen-Jahrgang, ein Jahr später, den sie eigentlich anvisiert hatte, war bereits voll gewesen.
»Weißt du was, Reni«, sagte Eva, und das klang anders, als sie Eva bisher kannte, wenn auch nicht so freundschaftlich wie die Worte selbst. »Du brauchst hier einfach eine Freundin. Alleine schaffst du es nicht gegen Michelle …«, Evas Pause war gekonnt, »die dominiert uns alle.« Weil sich bei Reni, außer ihren Augen, die sich weiteten, nichts regte, sagte Eva wie mit Engelszungen. »Sag mir, wenn du einen Rat brauchst. In jeder Beziehung…«
Reni war einfach nur sprachlos.
»Hast du mich verstanden?«
Reni glaubte ehrlich, dass sie Eva verstanden hatte, und nickte ihr zu. Allerdings glaubte sie nicht, dass Eva vor Michelle einmal für sie Partei ergreifen würde.
Zum Glück ging Eva nicht weiter darauf ein. Mit erhobenem Daumen bestätigte sie lediglich ihr stilles Einvernehmen, drehte auf den Hacken um und kehrte in die Produktionshalle zurück.
In der Halle bemerkte die Polin Maria, wie Eva etwas unter Renis Arbeitsplatz warf und rasch davonlief. Mit erhobenem Kopf defilierte sie an den Plätzen der Polinnen vorbei, die sich gespannte Blicke zuwarfen aber nur selten einmischten. Michelle dagegen hob anerkennend ihren Daumen, ehe ihre Augen die Glaswand zum Chefbüro suchten, wo sie jetzt unbedingt etwas zu besprechen hatte.
Noch vor der Mittagspause erhielt Reni die erste Abmahnung von ihrer Chefin, die Eingang in ihre Kaderakte fand.
»13. 01.1975: Doppeltes Fehlverhalten im hochsensiblen Produktionsbereich.«
Das mit der Auszeichnung zum 8. März konnte sie nun wirklich vergessen.
and auf ihre SchulterH
Nach dem langen Dienst ging Reni noch zur Kaufhalle, um frische Brötchen für sich und Frida mitzunehmen. Die Kaufhalle öffnete bereits um sechs Uhr, was allen Schichtarbeitern nutzte, die gleich nach der Nachtschicht ihren Einkauf erledigen konnten.
Frida lag noch im Bett, die anderen drei Mädchen, mit denen sie sich die Wohnung teilten, hatten bereits Schicht. Also war heute Zeit für ein entspanntes Frühstück zu zweit, sie hatten sich ja viel zu erzählen. Auch Reni genoss es, mit Frida zu frühstücken, so sehr sie sich auch einmal ein solch entspanntes Frühstück mit Björn wünschte. Nach ihren wenigen Nächten in seiner Wohnung, die sehr gelöst und harmonisch verliefen, schien er am Morgen jedes Mal zu gehetzt, als dass ein entspanntes Frühstück noch möglich gewesen wäre.
Der Kaffeeautomat blubberte und der Toaster klickte, auf dem Reni die Brötchen noch einmal kurz aufgewärmt hatte. Bei den Außentemperaturen waren sie vermutlich schon in der Warenschleuse eisig kalt geworden.
Es läutete an der Wohnungstür. Frida, die noch rasch ins Bad geschlüpft war, um sich frisch zu machen, rief: »Kannst du mal…!«
Draußen stand Maria, die Polin aus der Wohnung eine Etage höher. Reni wusste, dass Frida und Maria schon oft Kontakt hatten. Daher konnte sie besser mit ihr umgehen, wie sie mit allem besser umgehen konnte. Aber nun stand sie selbst hier und sah die angezogenen Schultern, die Marias Entschuldigung ausdrückten. In ihrer Hand hielt sie ein buntes Porzellanschälchen mit einem Deckel, dessen Knauf ein Vögelchen darstellte. Reni fand es kitschig, aber sie war Marias polnischem Geschmack gegenüber sehr tolerant. Maria war vor einem halben Jahr für immer in die DDR umgesiedelt, weil sie seit langem im Kombinat arbeitete und in Polen keine Familie mehr hatte. Dass sie noch im Ledigenheim wohnte, war keiner Frage wert. Ob sie geschieden war, oder ob ihre Familie verstorben war, wusste Reni nicht. Nicht einmal Frida hatte von Maria den Grund ihrer Umsiedlung erfahren. Aus irgendeinem Grund schien sich Maria zu wundern, dass Reni öffnete, aber dann besann sie sich: »Habt ihr Zucker für mich? Ein bisschen…«
Reni lächelte tapfer, obwohl sie sich noch immer schämte, was während der Schicht passiert war und was Maria miterlebt hatte. »Klar, komm rein.« Drinnen fiel ihr ein, dass sie die erheblich ältere Frau, sie schätzte Maria so um die fünfzig Jahre, an jedem anderen Tag an den gemeinsamen Frühstückstisch gebeten hätte. Heute musste sie verhindern, dass Maria über die Blamage sprach.
»Das ganz lieb von dir. Ich nicht trinke süß, aber Aneczka nur trinkt süßen Kaffee…« Sie schob die ausgestreckte Hand mit der Dose in Renis Richtung und lächelte verlegen. »Ein andermal, ich werde dir erzählen von…«, sagte sie noch, aber Reni glaubte, Maria freue sich lediglich über die Nachbarschaftshilfe.
Dass es für keine von ihnen ein andermal geben sollte, konnte niemand ahnen.
An diesem Morgen des 14. Januar umarmten sich die Mädchen erst einmal innig, als Frida endlich aus dem Bad kam. Der Duft der aufgewärmten Brötchen zog verführerisch durch die kleine Wohnung, und der Kaffee, der diesmal nicht dieser schreckliche Kaffee-Mix war, mit dem der Wirtschaftsminister die Menschen abzuspeisen versuchte, weil die Devisen knapp wurden, schickte sein verführerisches Aroma in alle Ecken und sogar hinaus auf den Flur und weiter bis ins Treppenhaus.
»Erzähle«, sagte Frida, »was hast du zu Hause die ganze Zeit gemacht?«
Reni goss beide Tassen voll köstlich duftenden Kaffee und griff nach dem Brotkorb. Dabei hoffte sie, so unbefangen zu klingen wie es nur ging. Von ihren eigenen Sorgen mit den gemeinen Weibern ihrer Schicht zu erzählen, hatte sie noch später Gelegenheit.
»Na was schon?« Reni grinste. Auf keinen Fall wollte sie Frida erzählen, wie sie dauernd an Björn denken musste, und wie sie gezögert hatte, ihm zu schreiben, wie sehr sie sich nach ihm sehnte.
»Ausschlafen. Ein bisschen Nähen für die Verwandtschaft. Das Übliche eben…«
Weiter kam Reni nicht. Schon wieder läutete die Klingel. Diesmal ging Frida zur Tür. Draußen stand Crissi aus der Wohngemeinschaft gegenüber.
»Ihr feiert Wiedersehen. Nach Kaffee-Mix riecht es jedenfalls heute bei euch nicht.«
»Nee, man gönnt sich ja sonst nichts.« Frida kannte diese Spielchen. Alle Welt glaubte, dass sie das ganze Haus mit West-Kaffee versorgen könnte. Diesmal konnte sie zwei Pakete mitbringen, weil gerade der Onkel aus Stuttgart zu Besuch war. Und der Onkel aus dem Westen hatte immer für die darbenden Brüder und Schwestern etwas im Gepäck.
Die Mädchen schauten sich an, unschlüssig, was jede von der anderen erwartete.
»Ich habe …« Crissis Blick ging zu ihrer Tasche, doch dann zögerte sie wieder. »Ich meine… kann ich mal kurz?«
Frida zog ihre Schultern an und ging einen Schritt zur Seite. Ihren Standardsatz: Wenn es sein muss , hatte sie sich verkniffen. Wer sie kannte, wusste ohnehin von ihrer ironischen Ader.
»Möchtest du ein Brötchen mit uns essen?« Wieder einmal erkannte Reni, wie Recht Björn hatte mit seinen Worten: Du bist stets der Schatz, der keinem etwas Böses will. Du musst nur besser darauf achten, dass du auch mal ein Echo zurückbekommst.
Bei den beiden, Frida und Crissi, musste sie keine Sorge haben. Sie waren ihr stets wohlgesonnen, dem Anschein nach jedenfalls, vor dem sie Björn ebenso gewarnt hatte. Nichts ist, wie es scheint. Wie wahr!
»Ich dachte eher an einen Kaffee«, meinte Crissi, »wenn ihr schon das ganze Haus damit verrückt macht.« Sie lachten, während Frida den wackeligen Hocker aus dem Bad mit einem Sitzkissen drapierte und ihn für Crissi zwischen Sofa und Wand schob.
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