Die erste Alternative schloss Verena aus. Paul war Journalist. Mit Leib und Seele. Außerdem war er äußerst penibel. Was sie fast immer bewundert, manchmal aber auch verflucht hatte: Seine Akribie, alles im Laptop in seinem elektronischen Kalender zu notieren oder in Excel-Dateien aufzulisten. Seine Pünktlichkeit. Seine Zuverlässigkeit.
Verena merkte, wie sie schon wieder hinüberglitt in die Flut der Erinnerungen. Ja, all diese Charakterzüge waren das, was ihn ausmachten. Was ihn anders sein ließ. Natürlich hatte sein Pünktlichkeitswahn sie manchmal zur Weißglut gebracht. Wenn sie beispielsweise, was häufig vorkam, noch fünf oder zehn Minuten vor dem Haus von Freunden, die sie eingeladen hatten, im Auto saßen, weil Paul mal wieder überpünktlich war. Zeit, die sie im Bad gut hätte nutzen können, um eben noch einmal die Lippen nachzuziehen. Aber im Grunde ihres Herzens, auch wenn sie hin und wieder mal schmollte, zeigte sich auch in diesem Wesenszug seine Zuverlässigkeit. Sie konnte sich immer blind auf ihn verlassen. Er war ihr starker Arm, ihre Stütze, ihr Leben.
Also, und so fand sie wieder zurück zu ihren Überlegungen, blieb nur die zweite Alternative: Paul musste sein Wissen so verborgen haben, dass nur Püll oder sie eine Chance hatte, es ans Licht zu befördern. Wahrscheinlich eher sie selbst. Zumindest ging sie erst einmal davon aus.
Verschlüsselte Notizen? Wahrscheinlich mit einem Zahlencode, der nur für sie von Bedeutung ist. Datum des Kennenlernens oder das der ersten gemeinsamen Nacht? Das erste Datum kannten viele, das zweite außer ihr nur Kirsten. Nach kurzer Überlegung verwarf Verena diese Theorie. Denn sie war sich auch sicher, dass die Spezialisten der SoKo diese Codes geknackt hätten und Paul viel zu vorsichtig war, um so vorzugehen, zumal er sich offensichtlich der ihm drohenden Gefahr bewusst gewesen war.
„Was weiß ich, was die Kripo nicht weiß?“, schrieb Verena auf ein neues Blatt Papier und notierte dann weitere Fragen.
Hat Paul in letzter Zeit sein Verhalten geändert?
Hat es Widersprüche gegeben, wenn er von seinen Reisen zurückkam und mir davon berichtete?
Hat er die Namen von Personen erwähnt? Den Namen einer bestimmten Person besonders häufig?
Hat Paul Dinge eingepackt, die er sonst nie mitgenommen hatte?
Hat er mir von seinen Reisen Geschenke mitgebracht, die anders waren als sonst?
Hat er mir über Dinge berichtet, die zunächst für mich unverständlich, jetzt im Nachhinein aber von Bedeutung sind?
Danach ging Verena alle Punkte durch, ohne auch nur die Andeutung einer Spur zu finden. Nichts. Es war zum Verzweifeln. Also Abstand.
Du hast alles versucht und bist jetzt vielleicht betriebsblind, gestand sie sich ein. So beschloss sie nach kurzem Zögern, sich frisch zu machen - es war inzwischen schon fast 18.00 Uhr - und noch eine Kleinigkeit im 'Biagini' essen zu gehen. Dabei wurde ihr bewusst, dass gerade das Lieblingsrestaurant von Paul und ihr zum Erst-einmal-Abstand-Gewinnen keine wirklich gute Idee war.
Also rief sie Kirsten an und fragte, ob sie allein sei, und ob sie nicht noch für zwei Stündchen irgendwo gemeinsam einen Happen essen gehen wollten.
„Erste Frage: Ja, ich bin allein. Zweite Frage: Nein, aber ich wollte mir gerade den Rest der Lammkeule von unserem letzten Sekretärinnentreff in den Ofen schieben“, kam die prompte Antwort. „Wenn du dich also beeilst, könnten wir so in einer guten halben Stunde einen gemütlichen Weiberabend starten. Für mich allein sind die Reste sowieso viel zu viel“, fuhr Kirsten fort. „Und dazu gibt´s einen 'David Moreno'. Ich lasse ihn vorher schon mal ein bisschen atmen, bevor wir ihm den Garaus machen“, ergänzte sie, noch bevor Verena etwas sagen konnte.
„Hatte schon gedacht, du hättest wieder einen Spanier kennengelernt“, ulkte Verena. „Dann bis gleich. Ich mach mich nur noch eben fertig, bin kurz nach halb sieben bei dir.“
„Beeil dich! Ich hab einen Riesenhunger.“
Ein bisschen Make-Up, die Haare einmal durchgekämmt, raus aus den Wohlfühl-
Klamotten, rein in die Jeans, weiße Bluse, darüber einen dünnen hellblauen Cashmere-pullover. Schon war Verena startklar. Sie schnappte sich ihre Handtasche, zog sich im Flur noch schnell ihre Sneaker an, schloss die Wohnungstür ab und hechtete die zwei Treppen hinunter zur Tiefgarage. Das war rekordverdächtig. Nicht einmal zehn Minuten hatte sie gebraucht, da sie doch sonst vor dem Kleiderschrank Zeit vertrödeln konnte ohne Ende. Überlegen, entscheiden, anziehen, Spiegelbild anschauen, umdrehen, über die Schulter blicken, grübeln, ausziehen, wieder überlegen, neu entscheiden, Plan verwerfen, ratlos in den gut gefüllten Kleiderschrank schauen, verschiedene Kombinationen aufs Bett legen, Bluse zwischen zwei Pullover packen, sich für Hose, Bluse sowie Pullover auf dem linken Stapel entscheiden und schließlich die rechte Kombination anziehen.
All das hatte sie sich heute gespart. Zügig fuhr sie aus der Tiefgarage nach links in die Weißer Hauptstraße Richtung Rodenkirchen, schaltete das Radio an - wie üblich war WDR 2 eingestellt - und vernahm die erste Zeile des gerade einsetzenden Songs von Bryan Adams Can´t stop this thing we started .
Nein, nicht schon wieder, drohte ihre innere Stimme. Lass´ es gut sein! Entspann dich, freu dich auf den Abend. Morgen ist auch noch ein Tag. Dann kannst du weiterstöbern.
„Ist ja schon gut“, murmelte Verena vor sich hin. Inzwischen hatte sie Rodenkirchen hinter sich gelassen und bog in den Militärring ein. Von hier aus brauchte sie nur noch knapp eine Viertelstunde bis nach Müngersdorf. Wie so oft dachte sie beim Durchfahren des Stadtwaldes an den Wiederaufbau der Stadt Köln. Auch hier war die Handschrift Adenauers zu erkennen, der mit Hilfe der zahlreichen Arbeitslosen nach der Währungsreform den Grüngürtel hatte errichten lassen. Natürlich wusste sie das meiste dessen, was unter Lokalkolorit von Köln zu verstehen war, von ihrem Chef, dem Inbild des Urkölners. Sofort zu Beginn ihrer Kölner Zeit hatte sie sich aber auch selbst intensiv mit der regionalen Nachkriegsgeschichte befasst und sich mit Hilfe der von Peter Koch geschriebenen Biographie über Adenauer ihr Bild von der rheinländisch eingefärbten Politik zur Zeit des deutschen Wirtschaftswunders und dem viel zitierten Kölschen Klüngel zusammengezimmert.
So diktatorisch wie er wohl oft in seinen Entscheidungen gewesen ist, ging es Verena durch den Kopf, so sehr bedurfte es wohl auch einer solch starken Hand für die Anfänge der Republik.
So ihren Gedanken nachhängend, die Uhr zeigte zwanzig vor sieben, erreichte sie den Lövenicher Weg, parkte ihren Corsa und ging schnurstracks in das gegenüberliegende Mehrfamilienhaus, in dem sich Kirstens geräumige 3-Zimmer-Wohnung befand.
„Just in time“, empfing Kirsten ihre beste Freundin und schob sie, nachdem sie Verenas Jacke im Flur aufgehängt hatte, gleich durch ins Wohnzimmer. „Bin gleich soweit, nur noch ein paar Minuten, dann ist auch das Knoblauchbrot fertig“, rief sie ihr aus der Küche zu.
„Knofi am Abend, erquickend und labend“, scherzte Verena. „Meinst du, das ist für eure Montagsrunde der richtige Muntermacher?“
„Keine Bange, an meinen Knoblauchkonsum haben sich die Herren Prokuristen schon gewöhnt. Und von meinem Chef sitze ich am Besprechungstisch weit genug weg. Nee, nee, das haut schon hin. Beim Protokollieren muss ich sowieso die Schnüss halten. Außerdem sind ja notfalls auch ein paar 'Fischer-Männchen' zur Stelle.“
Kirstens Hang zum Kerzenlicht war wie üblich unübersehbar. Überall verteilt brannten Teelichter, meist in kleinen Schälchen oder Gläsern. Eine wohlige Wärme verteilte sich im Raum. Verena zog ihren Pullover aus. Dann setzte sie sich auf eines der beiden im rechten Winkel zueinander stehenden weißen Zweier-Leder-Sofas. Kaum hatte sie es sich gemütlich gemacht, erschien Kirsten auch schon im Türrahmen mit dem noch dampfenden Knoblauchbrot.
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