1 Offenbarungen
„Ich habe zu viel getrunken, um gleich nach Hause zu fahren, haben Sie vielleicht Lust zu einem kleinen Spaziergang? Wir haben uns ja in unserem Vorbereitungsgespräch kaum richtig kennen gelernt“, fragte Ferdinand, als sie das Generalkonsulat verließen. „Gerne“, antwortete die Frau, „mir geht es eigentlich ebenso. Laufen wir also ein Stück. Ich möchte mich auch noch bei Ihnen bedanken, Sie müssen ja wahre Lobeshymnen über mich gesungen haben.“ „Nun ja, Sie haben mir doch durch Ihre Aktivität erst die Möglichkeit gegeben, meine Aufgabe in diesem Spiel auszuführen, das dann noch sehr gefährlich für mich wurde“, antwortete er. Auf Tanjas fragendes Gesicht berichtete er sein gefährliches Herauskommen aus dem Helios-Gebäude.
Gerne hätte er etwas mehr über diese interessante Frau erfahren, wollte sie aber nicht kränken. „Ich habe eine Frage, mit der ich Sie keineswegs beleidigen will und die sie mir nicht beantworten müssen“, brachte er schließlich heraus. „Ich weiß schon, was Sie fragen wollen“, lachte Betsy mit ihrer vollen warmen Stimme, die es ihm schon bei der ersten Begegnung angetan hatte, „nämlich, wie eine attraktive und einigermaßen intelligente junge Frau zu solch einem Job kommt. Vielleicht werde ich Ihnen die Frage irgendwann beantworten, wenn wir uns näher kennen und Sie mir im Gegenzug erklären, wie ein DV-Spezialist dazu kommt, für die Russen Industriespionage zu betreiben. Denn dass die Helios keine Kochtöpfe herstellt, ist doch allgemein bekannt.“ „Sie haben Recht“, lachte Ferdinand nun auch, „genau das wollte ich Sie fragen. Und ich verspreche Ihnen, mich zu öffnen, wenn Sie meine nicht gestellte Frage beantworten.“
„Zunächst nur so viel“, fuhr Betsy fort. „Ich habe in meiner weißrussischen Heimat Fürchterliches erlebt und diese Nebenbeschäftigung hilft mir, das Trauma zu bewältigen. Übrigens, Betsy ist nur mein Pseudonym bei diesen Aktivitäten, im normalen Leben bin ich Bankmanagerin und heiße Tatjana, aber meist werde ich nur Tanja genannt.“ Da die beiden gerade an einem kleinen Café vorbei kamen, sah Ferdinand die Gelegenheit, das Gespräch noch eine Weile fortzusetzen und lud die Frau zu einer Tasse Kaffee ein, was sie gerne annahm. Bewundernd blickte er auf ihre schlanken Hände, mit denen sie die Tasse hielt, aber immer wieder auch in ihr schönes Gesicht.
Tanja genoss seine Blicke, irgendwie faszinierte sie dieser Mann. Er war anders als die meisten Männer, die sie bisher kennen gelernt hatte, und seine Erzählung von den gefährlichen Folgen des stecken gebliebenen Fahrstuhls hatte sie angerührt. „Es ist seltsam“, begann sie, nachdem sie die Tasse abgesetzt und tief Luft geholt hatte, „ich hatte schon bei unserem ersten Treffen am Gründonnerstag großes Vertrauen zu Ihnen, was bei mir sonst ganz selten ist und deshalb will ich Ihnen jetzt doch etwas über meinen Grund für diese Tätigkeit erzählen. Dafür muss ich in meine Jugend zurückgreifen: Ich bin vor 30 Jahren in Minsk als Tochter eines Gymnasiallehrers und einer Sekretärin geboren worden, also gut bürgerlich. Das war noch in der Sowjetunion und mein Vater war begeisterter Kommunist. Meine Mutter hält dagegen mehr von der Kirche. Sie gehört zu den wenigen römisch katholischen Christen in unserem Land, die große Mehrzahl ist orthodox. Meine Eltern hatten eine Art Gentlemans Agreement abgeschlossen, dass jeder dem anderen seine Einstellung lässt. Ich übernahm den Glauben meiner Mutter und es war selbstverständlich, dass ich das Abitur machen und studieren würde.
1992 stellte die Firma, in der meine Mutter arbeitete, ihre Verwaltung auf Computer um und sie meldete sich zur Ausbildung als Systemadministratorin. Mein Vater, der seine kommunistische Vorliebe jetzt an die neue Regierung angepasst hatte, war dagegen, aber sie setzte sich zum ersten Mal durch und brachte später sogar einen kleinen PC mit nach Hause. Natürlich durfte ich auch daran üben und erste Erfahrungen sammeln. Als ich 15 war, hatte ich genug gelernt, um meine Schulaufgaben mit Hilfe des gerade aufkommenden Internet zu erledigen. Da meine Mutter sich immer für die deutsche Sprache interessiert hatte, ließ sie mich in der Schule ebenfalls Deutsch lernen, was mir große Freude machte. Heute bin ich ihr dankbar dafür. Sie haben vielleicht von den Verhältnissen in Weißrussland gehört. Ich war gerade 18 geworden, als ich mich mit einigen Mitschülern über die politischen Verhältnisse ereiferte. Über das Internet informierten wir uns über demokratische Werte, die im Unterricht tabu waren, und posteten Proteste gegen die Diktatur von Lukaschenko. Als wir in der Schule protestierten, wurde uns mit Relegation gedroht, darauf zogen wir in einer größeren Gruppe friedlich zum Präsidentenpalast und hielten Schilder hoch, auf denen wir Lukaschenko zum Rücktritt aufforderten. Ein paar hundert Meter vor dem Ziel prügelten plötzlich vermummte Milizionäre mit Schlagstöcken auf uns ein. Dann griffen zwei von ihnen mich, fuhren mich in einem Mannschaftswagen zum Vostrau-Park und vergewaltigten mich nacheinander am Ufer. Danach fuhren sie einfach weg und ließen mich liegen.
Nach einiger Zeit rappelte ich mich auf und ging nach Hause. Ich schämte mich, meinen Eltern von dem Erlebnis zu erzählen. Mein Vater als Anhänger Lukaschenkos hätte mich wahrscheinlich beschimpft und meine Mutter stand fast immer unter seiner Fuchtel. Aber ich hatte genug von diesem Land und wollte nur weg, möglichst nach Deutschland. Im Internet suchte ich mir eine Strategie zusammen, wie ich am besten hinkäme. Auf jeden Fall musste ich durch Polen und ich wusste, dass unsere Grenzer ziemlich scharf sind, da blieb nur ein illegaler Übergang, am besten bei Brest. Von dort könnte ich weiter direkt nach Deutschland, z. B. bei Görlitz. aber es hieß, dass die Deutschen ihre Grenzen auch sehr scharf bewachen und die Österreicher viel lockerer seien. Also entschied ich mich, über Brno in Tschechien nach Wien zu kommen und von dort nach München weiter zu fahren, denn ich hatte irgendwo gehört, dass hier die Anerkennung als politischer Flüchtling besonders leicht sein sollte. Auf die Idee, mich im Internet darüber zu informieren, kam ich nicht.
Am nächsten Morgen kleidete ich mich gepflegt, um unterwegs nicht unangenehm aufzufallen, und packte meinen Pass und eine Taschenlampe ein. Dann plünderte ich mein Sparkonto, tauschte DM ein, die überall akzeptiert wird, und fuhr nach Brest. Fünf Kilometer weiter bildet der Bug die Grenze nach Polen. Ich wartete am Ufer, bis es dunkel war, packte meine Sachen zu einem Bündel, das ich über dem Kopf tragen konnte, und schwamm über den Fluss, mein Zeug war kaum nass geworden. Morgens stieg ich in Terespol in den nächsten Zug nach Warschau und fuhr von dort weiter nach Brno. Die Tschechen gaben sich an der Grenze mit meinem Pass zufrieden. Obwohl ich zweimal umsteigen musste, hatte ich im Zug etwas essen und eine ganze Weile schlafen können. Eine halbe Stunde später stieg ich in einen Zug nach Znojmo, acht Kilometer von der österreichischen Grenze entfernt. Beim nahen Nationalpark ging ich im Dunkeln über die Grenze und ein ganzes Stück weiter bis kurz vor dem nächsten Dorf. Bis zum Morgen schlief ich im Wald, fuhr mit dem nächsten Bus nach Wien und von dort weiter nach München. Da ich illegal eingereist war, traute ich mich nicht in ein Hotel, sondern suchte mir auf dem Stadtplan ein unbewohntes Gebiet zum Schlafen, das ich mit der S-Bahn erreichen konnte, es war in der Gegend von Schleißheim.
Am Morgen ging ich zur Ausländerbehörde, wo ich im Warteraum eine Druckschrift fand, dass politische Flüchtlinge nur aus Ländern anerkannt würden, die an die Bundesrepublik angrenzen. Wenn ich mich jetzt meldete, würde meine Herkunft der Behörde offenbar und ich könnte sofort ausgewiesen werden. Das war zu viel für mich, ich war an den letzten Tagen sechzehnhundert Kilometer durch Europa gefahren, hatte einen Fluss durchschwommen und drei Nächte im Wald geschlafen, jetzt war ich vollkommen fertig und verzweifelt. Fluchtartig verließ ich die Behörde und irrte durch die fremde Stadt, bis ich die Frauenkirche fand. Ich bin ja kein sehr gläubiger Mensch, aber irgendetwas zog mich hinein, weil sie mir als Katholikin vertraut war. Drinnen fand ich die Schutzmantelmadonna, sie wirkte auf mich wie eine Mutter, der ich meine Sorgen offenbaren konnte. Weinend warf ich mich vor ihr auf den Boden und flehte sie um Hilfe an. Dort fand mich eine ältere Dame, die meine Verzweiflung erkannte, sie fragte vorsichtig und ich erzählte ihr alles. Sie war die Ausländerbeauftragte der Stadt und kannte sich gut mit den Bestimmungen für politische Flüchtlinge aus. Noch am selben Tag brachte sie mich zu einer Ärztin, die die noch erkennbaren Spuren der Vergewaltigungen drastisch dokumentierte und mir empfahl, nach sechs Tagen wiederzukommen, um einen Bluttest auf Schwangerschaft machen zu lassen. Dann besorgte mir die Dame erst mal eine Unterkunft. Der Test war dann positiv, die Schwangerschaft konnte nur durch die Vergewaltigung entstanden sein. Das Attest der Ärztin und meine guten Deutschkenntnisse sprachen für mich, so dass diese Dame zunächst eine befristete Aufenthaltsgenehmigung für mich und nach einem halben Jahr gegen alle Regeln meine Anerkennung als politischer Flüchtling erreichte. Sie vermittelte auch eine Abtreibung, denn natürlich wollte ich kein Kind von diesen Verbrechern zur Welt bringen. Mit zwei Jahren Zeitverlust konnte ich das Abitur machen und danach eine Banklehre absolvieren, weil mir für ein Studium das Geld fehlte. Seit sieben Jahren bin ich Bankbetriebswirtin, leite inzwischen das Investmentgeschäft eines mittelgroßen Instituts und besitze seit fünf Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft. Gelegentlich rufe ich meine Mutter an, wenn ich weiß, dass der Vater nicht zu Hause ist.
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