Am Pfingstmontag früh war in der Helios AG der Teufel los. Der ablösende Pförtner bemerkte, dass der Fahrstuhl zwischen zwei Stockwerken hing. Der Nachtpförtner, ein alter Herr, der in der Fertigung nicht mehr zu gebrauchen war, hatte gemeint, da niemand außer ihm im Gebäude sei, müsste er nichts unternehmen. Der alarmierte Sicherheitschef ließ den Fahrstuhl durch die Wartungsfirma prüfen, eine ausgelöste Stromsicherung war die Ursache. Als er vorsichtshalber die Bänder der Videoüberwachung prüfen wollte, stellte er fest, dass die Anlage stand und das aktuelle Band leer war. Dr. Luising, in dessen Zuständigkeit die Anlage fiel, wurde gerufen und wies nur lakonisch auf ihr Alter hin, er habe schon seit einem Jahr in mehreren Aktenvermerken ihre Erneuerung gefordert. Die vom Sicherheitschef angeordnete Prüfung der Zugangsüberwachung ergab keinen Eintritt ins Gebäude außer der Ankunft des Pförtners und keinen Eintritt ins Rechenzentrum, seit der letzte Programmierer Freitag das Haus verlassen hatte. Vorsichtshalber prüfte Dr. Luising noch einige wichtige Funktionen des Systems, fand aber nichts Auffälliges. Daraufhin fuhr er beruhigt nach Hause zu seiner Frau, die am Samstag von ihrer Reise zurückgekommen war.
Ganz anders sah es an diesem Morgen im russischen Generalkonsulat aus. Als Ferdinand um 10 Uhr erschien, saßen im Konferenzraum neben seinem Auftraggeber, dem Vizekonsul Andropow, auch der Militärattaché und zwei Fachleute von der Botschaft in Berlin, die schon am frühen Morgen eingeflogen waren. Ein Beamer stand bereit, an den Ferdinand seinen Laptop mit der externen Platte nur noch anzuschließen brauchte, um fast eine Stunde lang seine erfolgreiche „Datenverarbeitung“ zu präsentieren, wobei er den geheimen Zugang in das Datensystem der Helios verschwieg. Ausrufe des Erstaunens und der Anerkennung kamen aus den Mündern der Berliner, dann stellte der Vizekonsul Gläser und eine Flasche Wodka auf den Tisch. Mit den Worten: „Herr Wagner, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer tadellosen Arbeit, das muss gefeiert werden!“, goss er jedem ein Glas voll.
Ferdinand erhob sich und dankte, doch er hatte auch etwas zu sagen: „Es ist mir wichtig darauf hinzuweisen, dass ich ohne die hervorragende Vorarbeit der Agentin Betsy, die ja bis zum körperlichen Einsatz gegangen ist, nie in das Datensystem der Helios hinein gekommen wäre.“ Dann wies er die Russen darauf hin, dass er in seinem Büro alle Helios-Daten in sämtlichen Speichern unwiederherstellbar löschen werde. Das sei er sich aus Sicherheitsgründen schuldig, falls er irgendwie ins Visier der Behörden geraten sollte. Die Spezialisten sollten also möglichst die Platte, die er ihnen überreichte, gleich noch einmal in ihre Rechner kopieren.
Nachdem die Berliner die Platte kopiert hatten, gab der Vizekonsul bekannt, dass der Konsul die Gesellschaft zu einem Essen eingeladen habe. Also begab man sich in den komfortabel ausgestatteten Speiseraum des Konsulats, wo Ferdinand zu seinem Erstaunen Betsy vorfand und herzlich begrüßte, denn er war ihr durchaus dankbar. „Ja, nachdem Sie die Dame so exquisit gelobt haben, war ich der Meinung, wir sollten sie zu diesem Festessen hinzu laden“, sagte schmunzelnd ein älterer Herr, den ihm der Vizekonsul als Generalkonsul Bachurin vorstellte. Befrackte Diener servierten ein opulentes russisches Menü mit viel Alkohol, bei dem sich Ferdinand aber zurück hielt, weil er mit dem BMW gekommen war.
Auch Betsy trank nur wenig, aber beide mussten natürlich die Toasts beantworten, die auf sie ausgebracht wurden. Immer wieder musterte Ferdinand verstohlen diese attraktive Frau, die ihm an der Tafel gegenüber saß. Sie war etwa Mitte zwanzig, groß und schlank und trug ein tadellos geschnittenes, unauffällig elegantes hellblaues Kostüm. Ihre offen getragenen langen kastanienbraunen Haare waren ebenso bezaubernd wie ihre starken Brauen über den grünen Augen, die griechische, von der Stirn gerade verlaufende Nase und das schön geschwungene Kinn. Die Lippen waren unauffällig rot nachgezogen, die Fingernägel in Perlmutt lackiert. An ihren Ohren hingen goldgefasste blaugrün leuchtende Opalhänger und am rechten Ringfinger trug sie einen goldenen Ring mit einem großen, unregelmäßig geschnittenen ebenso leuchtenden Opal. Insgesamt machte sie einen sehr lebhaften Eindruck, der noch stärker wirkte als ihre Schönheit. Ab und zu fasste sie eine Haarsträhne am Kopf und ließ sie zwischen den Fingern bis zum Ende gleiten, das fand er interessant. Schon bei der ersten Begegnung, bei der sie die Behandlung des Dr. Luising abgesprochen hatten, war Ferdinand von ihr fasziniert gewesen.
Die Frau merkte natürlich genau, wie intensiv ihr Gegenüber sie betrachtete, sie war sich ihres Eindrucks auf Männer durchaus bewusst. Wenn er sich mit dem Vizekonsul unterhielt, betrachtete sie ihn heimlich genauer, denn sie hatte ihn schon bei ihrem ersten Treffen interessant gefunden. Er musste Anfang 40 sein, groß, mit kurzen blonden Haaren und wachen blaugrauen Augen. Seine Nase war ziemlich lang und sein Mund machte einen energischen Eindruck. Vor allem seine Hände beeindruckten sie mit den langen schmalen Fingern. Den kurzen Gedanken, wie diese Hände wohl liebkosen könnten, verwarf sie schnell wieder, das wollte sie überhaupt nicht wissen. Er hatte eine angenehme warme, aber nicht zu tiefe Stimme.
Ferdinand hatte schon früher kleinere DV-Aufträge für das Generalkonsulat erledigt. Vor drei Wochen hatte ihn der Vizekonsul mit der Frage überrascht, ob er in der Lage sei, bei der Helios AG die Konstruktionsdaten der neu entwickelten Kampfdrohne Heliofighter zu entwenden. Da erinnerte er sich, was er über Drohnen in der Schule gelernt hatte: „Eine Drohne ist eine stachellose männliche Biene, Hummel, Wespe oder Hornisse, die auf einem Jungfernflug junge Königinnen begattet.“ Der Begriff „begatten“ war ihm damals fremd gewesen, aber die heutige Bedeutung der Drohne als unbemannte Flugkörper kannte er natürlich.
Neben dem recht hohen Preis von 95.000,- € hatte Ferdinand dem Russen die Voraussetzungen genannt: Er müsse einen offiziellen Auftrag für „Planung und Einrichtung einer neuen DV-Anlage beim Generalkonsulat“ mit Angabe des Preises erhalten, außerdem müsse er die Schlüsselkarte des Leiters der DV-Abteilung kopieren und möglichst an sein Passwort kommen. Vor einer Woche lief der Auftrag bei ihm ein, kurz darauf rief der Vizekonsul ihn an, der DV-Chef heiße Dr. Otto Luising und seine Frau sei bis Pfingsten verreist. Er habe eine Dame aufgefordert, Dr. Luising in einer angemieteten Wohnung ins Bett zu locken, derweil könne er, Ferdinand die Schlüsselkarte kopieren und nach dem Passwort suchen. Am Himmelfahrtstag sollte er sich mit der Dame im Café Glockenspiel treffen, um die Einzelheiten zu besprechen. Ferdinand war schon bei diesem Treffen von ihrer Eleganz und natürlichen Sicherheit außerordentlich beeindruckt gewesen, bisher hatte er keinerlei Erfahrungen mit derartigen Frauen gehabt. Vor allem ihre ziemlich tiefe, aber wohlklingende Stimme mit dem leichten russischen Akzent gefiel ihm sehr.
Er hatte ihr gesagt, sie müsse den Herrn mindestens eine halbe Stunde lang so intensiv beschäftigen, dass er an nichts anderes denken könne, und sie hatte gefragt, wie er sich diese Beschäftigung denn denke. Na, sie könne ja vielleicht ein paar Partien Mensch ärgere dich nicht mit ihm spielen, hatte er grinsend geantwortet, worauf sie, ebenfalls lachend einwarf, sie wisse ja gar nicht, ob er dieses Spiel kenne. Da würde sie doch lieber ein Spiel wählen, das jedem Mann angeboren sei. Dieser Scherz hatte sie noch mehr für ihn eingenommen und er wollte versuchen, nach dem Menü ein wenig mit ihr zu sprechen, vielleicht war sie ja ansprechbar. Nachdem man zwei Stunden getafelt hatte, bekamen Betsy und Ferdinand ihre Schecks und verließen zufrieden das Generalkonsulat.
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