Die Behandlungsmöglichkeiten der Basilarismigräne bzw. Hirnstammaura sind noch dürftiger als bei der klassischen Migräne. Hinlegen und Abwarten – so lautete ja schon der Rat des Neurologen im Krankenhaus. Mit einem Kissen auf dem Kopf, das alle Wahrnehmung dämpft und den Kopf “begrenzt”, liege ich dann im abgedunkelten, möglichst ruhigen Raum. Meist bin ich in 30-60 Minuten wieder soweit „normal“ ansprechbar. Danach fühle ich mich allerdings immer extrem erschöpft und müde. Häufig kommen dann noch 1-2 Tage Muskelschmerzen, -schwäche und Schwindel (je nach Stärke des Anfalls gerne auch länger) hinterher. Dann geht es wieder ein paar Tage besser.
Meine Hoffnung: Die Prophylaxe mit dem Betablocker, die ich nun für zunächst acht Wochen ausprobieren soll. Einen Termin bei einem Neurologen gibt es frühestens in sieben Monaten. Ob er sich mit der Migräne auskennt? Fraglich. Ich lege mich noch nicht fest, weil ich erst noch eine andere Baustelle abzuarbeiten habe: mein Zwerchfell.
Meine Begegnung mit Pfleger Stefan hat mich nicht nur auf die Spur des Traumas gebracht. Der Gastroenterologe entdeckte bei der Magenspiegelung eine Gastritis und einen Zwerchfellbruch, der für meine Beschwerden im Oberbauch verantwortlich zu sein scheint. Dass das Zwerchfell mein Haupt-Problem ist, hatte mein Osteopath, Herr R., zwar schon ein dreiviertel Jahr vorher festgestellt, aber dass Teile meines Magens sich durch einen Riss im „Bauchraumtrenner“ (dem Zwerchfell) nach oben in den Brustraum verlagern und dort meinem Herzchen von Zeit zu Zeit auf die Pelle rücken und damit für Stress sorgen, war bis dato unbekannt.
Jetzt wird mir allerdings einiges klar. Mein neuer Hausarzt, Doc F., schickt mich auch mit dieser Diagnose zum Spezialisten. Ein Glück leben wir im Ruhrgebiet. Da praktiziert der Hernien-Papst fast nebenan. [Hernie ist der medizinische Fachausdruck für einen Eingeweidebruch]. Tausende Operationen dieser Art machen die ehemals mehrstündige Operation für ihn zum Routine-Eingriff. Seinen Humor hat der Doc dabei nicht verloren. Meine Angst vor ihm kann ich bei der Untersuchung deshalb gut hinter zynischen Bemerkungen und Mediziner-Witzen verstecken. Mein Mann ist bei der Unterredung dabei, da bin ich mutig.
Die OP empfiehlt der Chirurg vor allem, weil ich noch so jung sei (haha) und die lebenslange Gabe von Protonenpumpenhemmern, wie Pantoprazol, auf die ich sonst nach wie vor angewiesen wäre, auch nicht das Gelbe vom Ei seien. Ausschlaggebend ist allerdings die durch die Hernie verursachte Kollapsneigung.
Den Scheiß will ich los sein. Die oftmals als „Panikattacken“ missgedeuteten Auswirkungen eines verrutschen Magens will ich nicht mehr haben. Ich denke an die Worte meines früheren Hausarztes: „Alles psychosomatisch“, meinte er ja – der ist übrigens auch Internist und hätte bereits vor zwei Jahren mal auf den Trichter kommen können, dass trotz Adipositas (bzw. gerade da) ein Zwerchfellbruch Ursache meiner im Übrigen sehr präzise geschilderten und daher relativ eindeutig zu diagnostizierenden Beschwerden im Oberbauch und Brustkorb sein könnte.
So hätte ich mir locker ein Jahr Medikamenteneinnahme (Ranitidin und Pantoprazol) zur Sodbrand-Bekämpfung sparen können, denn diese Biester können ebenfalls zur Verschlimmerung der Migräne und anderer Malessen beitragen, wie ich heute weiß.
Die Aussicht auf ein Leben ohne die Anfälle und die Magentabletten lassen mich schlussendlich in die Zwerchfell-OP einwilligen. Angst vor (postoperativen) Schmerzen hatte ich noch nie. Die bringen mich nicht um. Anfang November werde ich dann operiert. Alles verläuft regelrecht. Mehrere Wochen flüssige und breiige Kost in Mäuse-Portionen lassen selbst bei mir die Pfunde purzeln.
Am Ende des Jahres habe ich 25 Kilo weniger auf den Rippen als am Anfang.
Nach der Narkose verliere ich aber nicht nur Gewicht, sondern auch noch mehr Haare. Unverändert dick bleiben nur meine Beine – und weh tun die auch noch.
Kurz vor Weihnachten, ein paar Tage nach meiner Entlassung und etwa zwei Monate, nachdem ich aus der Wiedereingliederung auf der Intensivstation gelandet war, bekundet mein Arbeitgeber doch noch Interesse an mir. Bisher hatte sich niemand nach meinem Befinden erkundigt.
Dann scheinen die ja mitgekriegt zu haben, dass ich noch lebe, denke ich. Per Einschreiben teilt man mir mit, dass man mit mir über meine Zukunftsperspektiven im Unternehmen sprechen möchte. Wie schön, denke ich. Dass ich nach dem Verdacht auf Hirninfarkt (von dem zumindest zwei der Kolleginnen wussten) noch sprechen oder laufen kann, wird vorausgesetzt. Details zu meinem Befinden scheinen niemanden zu interessieren.
Wenn ich aus gesundheitlichen Gründen nicht erscheinen könne, müsse ich dies durch ein zusätzliches ärztliches Attest belegen, schreibt die Sachbearbeiterin Fehlzeitenmanagement. (War sie nicht früher Justiziarin und Leiterin von irgendwas? Hatte sie mir nicht höchst selbst bei ihrem Einstieg ins Unternehmen gar das Du angeboten? Als sie den Leiterposten übernommen hatte, wechselte sie wieder zum Sie. Ich machte mit, weil ich keine Konflikte wollte).
Ich schreibe ihr zurück, dass mich ihr Interesse an mir und meinem Zustand freut, ich aber leider nicht kommen kann, da ich mich von einer OP erhole. Ein ärztliches Attest läge in Form meiner Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor, ich wäre aber gerne jederzeit bereit, telefonisch über ihr Anliegen zu sprechen. Ihr und ihrer Familie wünsche ich ebenfalls eine besinnliche Vorweihnachtszeit. Sie hatte das im Eifer des Gefechts wohl schlicht vergessen, kann ja mal passieren …
Sonst war sie doch immer so nett. Um so irritierter bin ich, dass die mir immer freundlich ins Gesicht lächelnde, verbindlich tuende Dame nicht einfach mal den Telefonhörer oder die PC-Tastatur in die Hand nimmt, um (zumindest vorab) mal mit mir Kontakt aufzunehmen. Schließlich sind wir doch so was wie eine große Familie in unserem Unternehmen, in dem soziale Verantwortung großgeschrieben wird.
In einem weiteren Schreiben beharrt sie stattdessen weiter auf ihrer Meinung, dass ich verpflichtet sei, ein Extra-Attest beizubringen. Droht mit Sanktionen im Falle des Nichtbefolgens.
So kommen wir nicht weiter. Mit geht’s beschissen, ich kann kaum laufen, ernähre mich von Kleinstmengen Babybrei und weich gekochten Buchstabennudeln und habe null Energie, mir jetzt noch so was reinzuziehen.
Das längst überfällige geschieht: Ich überwinde und wende mich an eine Rechtsanwältin. Sie klärt daraufhin den Vorgesetzten der Sachbearbeiterin schriftlich über die Rechtslage auf und teilt mit, dass ich gerne bereit sei, nach Gesundung an einem Gespräch teilzunehmen, das den rechtlichen Anforderungen genüge und weiterhin für eine telefonische Kontaktaufnahme mit dem Personalverantwortlichen zur Verfügung stehe. Sie bittet mithin um Rücksichtnahme und verweist auf den mir vom Gesetzgeber eingeräumten Freiraum, um mich um meine Gesundung zu kümmern.
Auch meinen zuständigen Betriebsrat informiere ich über die Sachlage. Der war nämlich ein bisschen verwundert ob meiner freundlichen, aber deutlich subtil-missmutigen E-Mail-Antwort auf die „Einladung“.
Sein Kommentar dazu: „Das machen wir doch immer so.“ Wenn das nicht alles so traurig wäre und meine Eingeweide schon verheilt wären, könnte ich mich biegen vor Lachen.
Danach höre ich nichts mehr. Von niemandem aus der Firma, in der ich mir 13 Jahre den dicken Arsch aufgerissen habe und für einen Witzlohn mein Fachwissen eingesetzt habe, mit dem andere sich die Lorbeeren verdient haben. Na ja, so ist das halt, wenn man nicht gelernt hat, sich seinem Wert entsprechend zu verkaufen und stets bemüht war, alles besonders gut und richtig zu machen.
Die OP löst in den nächsten Monaten leider nur einen Teil meiner Probleme. Andere kommen hinzu oder verschlimmern sich.
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