1 ...6 7 8 10 11 12 ...20 „Was ist Stonehenge, Mama?“, fragt Jessica ohne aufzublicken, während sie sich einen weiteren Toast belegt.
„Das ist ein kraftvoller Platz, der mich immer gesund gemacht hat, wenn es mir als Kind nicht gut ging. Dann sind Oma und Opa mit mir dorthin gefahren.“
„Und es hat immer geholfen“, ergänzt Karen. „Ja, fahrt dort mal hin. Das ist eine gute Idee.“
„Wenn Gwynn mir ihr Auto leiht.“
„Du bist doch den Linksverkehr gar nicht gewöhnt“, brummelt Brian, der seine Zeitung wieder aufgenommen hat.
„Ich bin eher den Rechtsverkehr nicht gewöhnt“, erwidert Sandra. „Ich habe noch nie eine einzige Meile mit dem Auto im Rechtsverkehr zurückgelegt.“
„Na, ich bin gespannt“, murmelt Brian. „Hoffentlich geht das gut.“
Sandra erhebt sich vom Stuhl. „Dann machen wir uns mal auf den Weg. Ob Gwynn schon wach ist? Bestimmt hat sie lange gearbeitet. Komm, Jessi.“ Sie winkt den Großeltern zu. „Macht’s gut, bis heute Abend.“
Eine Stunde später ist Sandra in Gwynns Mittelklassewagen auf der A350 nach Süden unterwegs – ohne Jessica. Sie wollte gerne bei Boy bleiben und mit ihm spielen. Boy hatte die Idee begrüßt, und Gwynn, die sich noch zerzaust und im Nachthemd präsentierte, hatte nichts dagegen gehabt. ‚Irgendwie ist es doch ganz gut, dass die Kleine nicht dabei ist‘, denkt Sandra. Sie möchte mit dem Steinkreis energetischen Kontakt herstellen und die uralte Energie darum bitten, ihr zu helfen. Sie erinnert sich noch sehr gut daran, wie Brian und Karen sie damals die heilende Wirkung von Stonehenge spüren ließen. Es war ein wunderbares Gefühl gewesen. Ja, sie hatte es wahrhaftig gespürt. Es war wie ein sanfter Wirbel, der sie umschlungen hatte und durch den Kopf in sie eingedrungen war. Er hatte sie jedes Mal erfüllt mit einem wunderbaren Gefühl und mit der unzerstörbaren Zuversicht, wieder gesund zu werden. Sie war – soweit sie sich erinnern konnte – drei Mal dort gewesen, und immer hatte sie bereits auf dem Rückweg den Einsatz der Linderung gespürt. Am nächsten Tag war sie regelmäßig wieder genesen. Klar, es handelte sich nur um Erkältungen, einmal sogar mit Fieber, aber dennoch: Es hatte gewirkt. Und so würde es nun wieder sein.
Sandra ist mit den Gedanken bereits so in Stonehenge, dass sie das Schild nicht sieht, das auf einen Kreisverkehr hinweist und dazu auffordert, die Geschwindigkeit zu reduzieren. Weitere Schilder geben die erlaubte Geschwindigkeit vor. Ihr Tacho zeigt 50 Sachen an, und erlaubt sind nur noch 30. Schnell erreicht sie das nächste Schild: 20 Mph.
Als sie durch ein Schlagloch fährt, wird sie wie vom Donner in die Realität zurückgeholt. Sie erkennt, dass sie geradewegs auf einen etwa drei Meter hohen bepflanzten Hügel zurast, der von dem Kreisverkehr umrundet wird. Sie tritt auf die Bremse und rutscht in den Kreisel aus Teer hinein. Sie gerät ins Schleudern. Instinktiv nimmt sie den Fuß vom Pedal. Der Wagen fängt sich, aber die Geschwindigkeit ist immer noch zu hoch. Sandra schliddert in die Kurve. Wie durch ein Wunder, ist kein weiteres Fahrzeug zu sehen. Der stark schlingernde Wagen brettert auf die nächste Ausfahrt zu. Da, die Leitplanke. Sandra sieht sich schon hineinkrachen. Es ist wie eine Vorschau in Zeitlupe.
Aus dem Nichts taucht eine Information auf, von der sie später nicht einmal wird sagen können, von wem sie sie hat: ‚Egal, was passiert. Schaue niemals dorthin, wo du nicht hin willst, sondern dorthin, wo du hin willst.‘
Es gelingt ihr, sich vom Anblick der Leitplanke loszureißen und das Auto quietschend und kreischend in die Ausfahrt zu lenken. Ihre Handtasche fällt zu Boden und der Inhalt verteilt sich, aber dann bringt sie das Auto unter Kontrolle. In letzter Sekunde, bevor sie in den Gegenverkehr geraten wäre!
Langsam, fast schleichend, fährt Sandra weiter. Als sie nach einer Meile eine Gelegenheit zum Halten findet, nimmt sie diese wahr und steigt aus. Ihre Knie zittern, und ihr wird schlecht. Diesmal ist es zwar nicht der üble Schmerz im Oberbauch, aber ihr Gesicht rötet sich, und sie wird von einer Fieberattacke gepackt. Wie aus heiterem Himmel wechseln Hitzewellen und Frösteln sich ab. Sie lässt sich wieder in den Wagen fallen und kramt in den Sachen herum, die auf dem Boden liegen. „Die Enzyme, wo sind die Enzyme! O mein Gott, wenn das doch endlich ein Ende hätte. Bitte lasst mich schnell in Stonehenge sein, damit das bald aufhört.“ Sie findet die Schachtel, schaut sich um, stellt fest, dass sie kein Wasser dabei hat und wirft drei Kapseln ein, die sie trocken hinunterwürgt. Eine Zeitlang hat sie das Gefühl, die Medikamente würden ihr im Hals steckenbleiben, aber kurze Zeit später scheinen sie doch ihren Weg in den Magen gefunden zu haben.
Nach einer halben Stunde weisen Schilder den Weg zum nahen Heritage, dem Jahrtausende alten Vermächtnis einer vergangenen Kultur, von dem nicht viel bekannt ist. Sandra, den Schreck vom Kreisel noch immer in den Knochen, fährt langsam und vorsichtig, ohne dass der nachfolgende Verkehr sie drängen würde. Ihre ‚Follower‘ scheinen alle viel Zeit zu haben.
Sandra meint, sich noch recht gut an einen großen Parkplatz erinnern zu können, von dem aus man durch eine Unterführung auf die andere Straßenseite und zu dem Steinkreis gelangte. Früher, vor Sandras Zeit, war Stonehenge einmal frei zugänglich gewesen, und jährlich am 21. Juni fanden sich viele Neokelten ein, um die Sommersonnenwende zu feiern. Da solche Feste jedoch mit immer mehr Verschmutzung des Kulturerbes einhergingen, wurden diese zunächst verboten, und später bekam Stonehenge einen Zaun mitsamt ständiger Bewachung. Gegen Zahlung eines kleinen Beitrags war es aber immer noch möglich gewesen, den Steinkreis zu betreten und zwischen den Megalithen des Bauwerks umher zu pilgern. Wenn nicht viele Menschen vor Ort waren, konnte man sogar zur Besinnung verweilen und die Kraft spüren. Sandra erinnert sich daran, dass es immer geregnet hatte, wenn sie mit ihren Großeltern nach Stonehenge gefahren war. Das fällt ihr jetzt erst auf, nach mindestens 20 Jahren. Bei Regen hierher zu fahren hatte sicher auch den Grund gehabt, möglichst alleine dort zu sein.
Die Schilder führen Sandra in eine andere Richtung, als sie sich zu erinnern glaubt, und bald stellt sie fest, dass sich hier alles verändert hat. Die alten Parkplätze, auf denen Oma und Opa immer ihr Auto abgestellt hatten, sind verschwunden, wurden wahrscheinlich der Natur zurückgegeben, und die Unterführungen sind zugeschüttet und damit nun Teil des Straßendamms. Sandra wird auf einen anderen großen Parkplatz geleitet, auf dem sie schon aus einiger Entfernung Busse stehen sieht. Sie lenkt das Fahrzeug dorthin, und als sie den Schildern zum Eingang folgt, ist sie erschrocken und entsetzt, wie sehr sich alles verändert hat. Wo ist die Andacht des Monuments geblieben, wo die heilige Atmosphäre? Stonehenge gleicht einem überfüllten Rummelplatz, degradiert zum Touristenmagnet mit Ausstellungshalle zur Geschichte des Monuments. Ein kleines Freilichtmuseum ist ebenso dabei, wie ein paar Ticketschalter und eine Bushaltestelle, von wo aus die Touristen nach Stonehenge gebracht werden. Der Steinkreis ist nur noch in der Ferne zu erahnen.
Sandra begibt sich zu einem der Schalter, vor dem sich bereits eine Schlange gebildet hat. Sie erhascht einen Blick auf die Preistafel, die ihr einen Seufzer der Enttäuschung entlockt. „26 Pfund, die Hälfte von dem, was ich noch habe“, stöhnt sie. „Für den Eintritt zu einem Heiligtum, wo ich garantiert keine Besinnung finde, und schon gar keine Heilung, bei dem Rummel.“ Enttäuscht geht sie zum Auto zurück.
5. Kapitel – Der Entschluss
Es ist recht früher Nachmittag, als Sandra wieder bei Gwynn eintrifft und ihr den Schlüssel zurückbringt. Früh genug, dass Gwynn noch nicht wieder zur Arbeit gegangen ist. Sie hätte schon eine Stunde früher wieder zurück sein können, wenn sie nicht in einer einsamen Bucht am Straßenrand gehalten und sich der Verzweiflung hingegeben hätte. Das schöne Wetter kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie nicht die ersehnte Heilung bekommen hat. ‚Noch drei Monate!‘, schießt es ihr durch den Kopf. Es ist gerade so, wie andere über den nächsten Urlaub nachdenken. ‚Noch drei Monate, dann fliegen wir in den Süden!‘ Mit dem Unterschied, dass Sandras Süden wo ganz anders ist. Seltsamerweise waren bei dem Stopp keine Schmerzen aufgetreten, keine Fieberattacken oder andere Anfälle. Sie hatte sich nur dem Schicksal ergeben – und ihren Tränen. Sie hatte so sehr geweint, dass sie Durst bekommen hatte. Dieses Signal des Körpers – he, ich brauche Wasser – konnte sie jedoch nicht befriedigen, weil sie vergessen hatte, welches mitzunehmen. Aber für Sandra war der Durst sowieso nur ein Zeichen dafür gewesen, dass sie ‚Unmengen von Tränen‘ vergossen hatte. So kam es ihr jedenfalls vor.
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