„Ja, ich bin das, Opa. Wie geht es dir?“
Ohne auf die Frage einzugehen, deutet er mit seinem klobigen Zeigefinger auf Jessica. „Und wer ist das?“
Sandra dreht sich zu dem Mädchen um, winkt es herbei und legt ihr, als sie neben ihr steht, voller Stolz eine Hand auf die Schulter. „Das ist Jessica, deine Urenkelin.“
„So-so, Urenkelin.“ Endlich macht er einen Schritt zur Seite und sagt, begleitet von einer eindeutigen, wenn auch nur flüchtigen Handbewegung: „Nun kommt schon rein.“
Die beiden schnappen sich ihr spärliches Gepäck und drängen sich an Brians ausgeprägtem Leibumfang vorbei in einen engen, dunklen Flur. Unschlüssig, was sie den Taschen machen sollen, wartet Sandra auf weitere Anweisungen. Endlich wird die Tür geschlossen. Das sorgt für eine gewisse Dunkelheit, an die sich die Augen erst gewöhnen müssen.
„Geht weiter“, sagt Brian und bedient sich dabei einer Geste, als wolle er ein paar Gänse vor sich hertreiben. „Du kennst dich ja hier aus, auch wenn’s lange her ist…“
Sie gehen durch den Flur in den hinteren Teil des Hauses, wo rechts eine nach Bohnerwachs riechende steile Treppe unters Dach führt und sich links zwei Zimmer befinden. Das Fenster zur Straße gehört zur Küche. Dahinter liegt ein kleines Wohnzimmer. Eine große gläserne Terrassentür gestattet einen Blick auf den kleinen, auch zu dieser Jahreszeit üppig bewachsenen Garten. Selbst der Turm der mittelalterlichen Kirche ist von hier aus zu sehen.
„Geht ins Wohnzimmer“, befiehlt Brian. „Das Gepäck stellt ihr am besten unter die Treppe, damit man nicht drüber stolpert.“
Während die beiden wie geheißen ihre Sachen verstauen, fragt Sandra: „Ist Oma auch da?“
Brian geht derweil ins Wohnzimmer und setzt sich auf eine alte, aber gut erhaltene dunkelbraune Ledercouch. Er nimmt eine Zeitung vom Tisch und antwortet. „Sie schläft.“ Dann schiebt er seine Brille auf die Nasenspitze und schaut über deren Rand zu, wie Sandra und Jessica sich müde in die ebenso alten, gepflegten Sessel fallen lassen. „Was wollt ihr eigentlich hier?“
Sandra beugt sich vor und legt die Fingerspitzen aneinander. Sie wagt den Versuch einer Erklärung, als Schritte auf der knarrenden Treppe zu vernehmen sind, die sich vorsichtig nach unten bewegen. Sie werden vom Klacken eines Stocks begleitet. Als die letzte Stufe genommen ist, erscheint Oma Karen im Türrahmen. Sandra erschrickt. Sie hat sie zuletzt gesehen, als sie nach Berlin ging, und seither ist sie um Jahrzehnte gealtert. Dabei ist sie erst 70, sieht aber 20 Jahre älter aus als ihr Mann mit 73. Es ist ihr anzusehen, dass auch sie einmal eine ausgeprägte Leibesfülle hatte. Jetzt aber wirkt sie ausgezehrt. Nur das schlohweiße Haar, kurz und ordentlich frisiert, scheint vom Kräfteverfall verschont geblieben zu sein. Sandra erhebt sich und geht auf Karen zu. Sie erfasst deren freie Hand und führt sie für einen Kuss an den Mund. „Guten Tag, Oma.“
Die Frau zieht ihre Hand weg. „Schön, dass man dich auch wieder mal sieht.“ Auf schwachen Beinen bahnt sie sich ihren Weg zum Sofa und setzt sich neben Brian, der die Zeitung inzwischen aufgenommen hat. Sandra sieht von ihm nur die Finger. Der Rest der fülligen Gestalt ist hinter bedrucktem Papier verschwunden.
„Oma, es tut mir leid“, beteuert Sandra und setzt sich wieder hin. „Ich weiß, ich hätte mich mal melden sollen. Aber ich konnte nichts dafür, das musst du mir glauben.“
„Telefonieren kann man immer mal. Wenigstens einmal in zehn Jahren hätte doch drin sein müssen, selbst für dich. Hast du eine Ahnung, was wir uns für Sorgen gemacht haben?“ Karens Stimme klingt zittrig und schwach. Sandra kann nicht einordnen, ob es ihre Gebrechlichkeit ist, oder ob sie dem Weinen nahe ist.
Jessica weiß nicht, wie sie sich verhalten soll. Ihr ist schrecklich zumute. Am liebsten würde sie aus dem Haus flüchten und zu Gwynn laufen. Aber Gwynn ist ja zur Arbeit gegangen. Sie reißt sich zusammen und schaut zur Decke, die mit einem Blümchenmuster tapeziert ist. Sie beginnt, die Blüten zu zählen und lenkt sich so von dem Gespräch ab. Ein Einhorn-Lodge hat sie sich jedenfalls ganz anders vorgestellt. Ob Uroma in Wirklichkeit eine Hexe ist? Fast scheint es so.
„Oma!“ Nun weint auch Sandra. Sie macht Anstalten, sich zu erheben und zu Karen zu gehen.
Die aber vereitelt das Vorhaben schon im Entstehen. „Bleib sitzen.“ Für diese beiden Worte muss Karen all ihre Kraft aufgewendet haben. Sie klingen herrisch und befehlerisch, ohne die Spur von Schwäche, und Sandra gehorcht erschrocken. ‚Ob sie nur die Schwache spielt?‘, schießt es ihr durch den Kopf. Aber dann verliert die Stimme wieder an Kraft und klingt zittrig und leise. „Wie ich sehe, hast du Gepäck dabei. Willst du nun in England bleiben?“
‚In England – irgendwo in England, aber bitte nicht hier bei uns.‘ So hört es sich an.
Brian lässt erwartungsvoll die Zeitung sinken und schaut gespannt über den Rand seiner Brille.
Eigentlich wollte Sandra von ihrer Krankheit erzählen, davon, dass sie bald sterben wird, was ihr nun wahrhaftig wieder möglich erscheint, und davon, dass sich jemand ihrer lieben Kleinen annehmen muss, wenn sie nicht mehr ist, aber angesichts dieses kühlen Empfangs und der kraftlosen Oma gelingt es ihr nicht, den Einstieg dafür zu finden. Sandra druckst herum, schüttelt den Kopf, und dann nickt sie. „Ja, irgendwie schon. Wir sind heute erst angekommen und haben uns gleich auf den Weg zu euch gemacht.“
„Immerhin hast du uns nicht ganz vergessen“, sagt Brian, der bereits wieder in die Zeitung vertieft ist.
„Und was willst du hier?“, fragt Karen. Beide Hände ruhen auf dem Stock, der quer über ihrem Schoß liegt, während sie schwer atmend auf eine Antwort wartet.
„Wir haben kein Zuhause“, gibt Sandra zu Bedenken. „Ich dachte, ihr hättet - vielleicht – mein altes Zimmer – oben unterm Dach…“
Karen nimmt noch einmal einen tiefen Atemzug. „Dein altes Zimmer ist voller Gerümpel.“
Sandra glaubt, ein Signal der Annäherung zu spüren und antwortet: „Das macht nichts, Oma. Wirklich. Ist denn mein Bett noch drin?“
Nun mischt sich Brian wieder ein. „Du hast vielleicht Nerven“, sagt er, ohne die Zeitung herab zu nehmen. Es klingt eher so, als hätte er es mehr zu sich selbst gesagt, als zu Sandra.
„Wie stellst du dir das denn vor?“, fragt Karen. „Wie lange willst du denn bleiben?“
Sandra spielt mit einer ihrer matten Strähnen, die kraftlos auf die Schulter fallen. Sie spürt, welche Ablehnung in der Frage mitschwingt. Urplötzlich wird ihr Gesicht aschfahl und sie hält sich den Oberbauch. „Mir wird schlecht“, stöhnt sie.
Jessica springt auf, kniet sich neben Sandras Sessel, streichelt ihr Bein. „Mama“, ruft sie erschrocken und angstvoll zugleich.
„Nun tu doch nicht so“, krächzt Karen. „Mich kannst du nicht für dumm verkaufen. Das hat deine Mutter lange genug versucht. Genauso ein Flittchen wie du, das auch schon seit einer Ewigkeit verschwunden ist.“
Sandras fahles Gesicht wird knallrot, und ihre Backen blähen sich auf. Sie drückt sich aus dem Sessel hoch, zeigt auf ihre zusammengepressten Lippen – ich muss mich übergeben – und eilt zur Toilette, so schnell es ihr Zustand zulässt. Die Tür wird zugeschmissen, und dann ist zu hören, was Jessica schon so oft miterleben musste.
Jessica läuft zur Toilettentür, will sie öffnen, stößt aber auf Widerstand, weil ihre Mama drinnen davor kniet. Entsetzt und planlos läuft sie zwischen Wohnzimmer und Klo hin und her, schaut auf die ratlosen Gesichter der Urgroßeltern, bis sie sich wieder in ihren Sessel fallen lässt und zu weinen beginnt.
Würgen und Husten gehen noch eine Zeitlang weiter. Es scheint gar nicht mehr enden zu wollen. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit kommt Sandra wieder ins Wohnzimmer. Noch immer ist ihr schlecht. Kraftlos lässt sie sich in den Sessel sinken.
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