Sandra legt einen Finger auf die Lippen und macht „Pscht“, bevor sie fragt: „Was ist günstiger?“
„Wir können einen Festpreis vereinbaren. Sagen wir: 50 Pfund?“
Sandra hat mit mehr gerechnet. Und so ist sie sehr zufrieden mit dem Angebot, das der freundliche Fahrer ihr macht. Sie wählen die Landstraße, damit sie sich schon während der Fahrt wunderbar auf ihr Zuhause einstimmen können und genießen das Wetter, das hier um so viel besser ist, als es in Berlin war. So viel besser, dass Jessica fragt: „Gibt es in England keinen Winter?“
Die Fahrt geht über für Berliner Verhältnisse schmale, teilweise von Hecken gesäumte Straßen. Schon, als sie den Airport verlassen, macht Jessica ihre Mutter auf einen Missstand aufmerksam, den diese wohl noch gar nicht bemerkt hat: „Mama, wir fahren auf der falschen Seite. Was, wenn uns einer entgegen kommt?“
Sandra lächelt. „Das ist so hier in England“, erklärt sie. „Deshalb sitzt der Mann ja auch rechts. In England herrscht Linksverkehr. Hier ist alles ein bisschen anders, als in Deutschland.“
Jessica ist begeistert. „Ich find’s cool“, sagt sie. „Linksverkehr ist viel schöner, als anders herum.“
Nach einer entspannten einstündigen Fahrt erreicht das Taxi Combe Manor. Der Fahrer ist im Begriff, in den Ort hineinzufahren, aber Sandra möchte bereits am Ortsrand aussteigen.
„Und Ihr Gepäck?“, gibt der Fahrer zu bedenken.
Sandra und Jessica antworten nicht. Sie öffnen ihre Türen und verlassen das Auto.
Der Fahrer hebt die Schultern, bevor auch er seine Tür öffnet und es ihnen gleichtut. Er gräbt die Taschen aus dem Kofferraum und stellt alles auf die Straße. Derweil stemmt Sandra ihre Hände in den Rücken und streckt sich genüsslich, während Jessica ausgelassen umherhüpft. „Hier ist es schön“, entfährt es ihr.
Sandra kramt eine abgenutzte Geldbörse aus ihrer Umhängetasche und wählt einen von zwei 50-Pfund-Noten aus, die sie herauszieht und dem Fahrer übergibt. „Danke“, sagt sie.
Der Fahrer verbeugt sich ein wenig. „Madam!“
Sandra ist sich nicht so ganz klar darüber, ob er sie gerade hofiert oder verarscht. Sicherheitshalber schenkt sie ihm ein Lächeln, woraufhin der Mann wieder sein Taxi besteigt, auf der engen Straße gekonnt wendet und davonfährt.
Jessica rennt auf ihre Mom zu und schlingt ihr die Arme um die Taille.
Sandra streichelt ihren Kopf. Sie fühlt sich unsagbar wohl. Nach einer Weile löst sie behutsam die Arme des Mädchens, das sie offenbar gar nicht mehr loslassen möchte, und sagt: „Komm!“ Sie beladen sich mit Koffer, Taschen und Tüten wie zwei Packesel und machen sich an einem kleinen, idyllischen Bach entlang auf den Weg zur Dorfmitte. Schon nach wenigen Hundert Metern erreichen sie eine steinerne Brücke, die geradewegs in den Ort hineinmündet. Sandra lässt ihr Gepäck fallen und stemmt sich schwerfällig und unter Aufbieten aller Kräfte auf die Brückenmauer hoch, um sich für ein paar Momente zu setzen. Der Stein ist kälter, als der Sonnenschein vermuten lässt. Immerhin ist es Winter.
Winter!!!
Im November, das war vor drei Monaten, da hatte sie dem Arzt gesagt: ‚Sechs Monate. Dann kann ich den Winter noch durchleben und dann gehen.‘ Nun hat sie die Hälfte bereits rum. Es ist Februar, und wenn der Arzt recht behielte, wäre im Mai ihre Beerdigung. Spätestens! Angesichts dieser Idylle kommt ihr das nun echt wahnwitzig vor. In diesem wunderbaren Moment fühlt sie sich überhaupt nicht so, als müsse sie sterben. Sie blickt zu Jessica, ihrer geliebten Tochter, und schaut ihr zu, wie sie, über die Brückenmauer gebeugt, Kieselsteine in den Bach wirft. ‚Was wird dann wohl aus ihr?‘ Sandra möchte weinen, aber dann verdrängt sie den Gedanken an das nahende Ende wieder und lenkt ihre Wahrnehmung auf diese wunderschöne Umgebung, die sie sehr vermisst hat. Es war ihr gar nicht so bewusst gewesen in all den Jahren in Berlin. Die Sehnsucht tritt erst jetzt heftig zutage, da sie sie gar nicht mehr braucht, weil sie ja wieder zuhause ist.
„Mama, schau mal, ich kann Steine in den Wellenkreis vom anderen Stein werfen!“
Sandra gleitet von der Mauer runter und stützt sich neben Jessica auf die niedrige Brüstung. Sie schaut in das stille Wasser, das gerade mal eine Handbreit tief ist, und schon stürzt ein Kiesel hinab und bildet einen Wellenkreis. Gleich darauf folgt der zweite. „Jaaa!“ Jessica hat getroffen. „Gut gemacht, meine Kleine“, sagt Sandra.
Jessica wirft noch einen weiteren Stein hinterher, aber Sandra sieht es nicht mehr. Ganz plötzlich ist es dunkel geworden. Sie tastet nach dem Grund, die ihr die Sicht nimmt, als sie eine Stimme hört, die zu ein paar wohlig warmen Händen gehört: „Erst raten, wer hier ist.“
Der erste Name, der Sandra einfällt, ist: „Gwynn?“
Die Dunkelheit macht dem Sonnenlicht Platz. „Ja, natürlich Gwynn, deine beste Freundin aus alten Tagen. Wer denn sonst?“
Sandra wirbelt herum und blickt in ein Gesicht, das sich in den letzten zehn Jahren kaum verändert hat. Es ist immer noch umrahmt von langen, dunkelbraunen Locken, die so wunderbar zu den braunen Augen passen, und auch die Haut ist noch genauso makellos und beneidenswert wie damals, als Sandra zur gleichen Zeit unter grässlicher Akne litt. „Gwynn!“ Sie fällt der Frau um den Hals. „Wieso bist du hier? Wohnst du nicht in Bristol?“
„Das war einmal. Mensch, Sandra, so lange nicht gesehen, und trotzdem noch erkannt. Ich hab dich von meiner Wohnung aus beobachtet.“ Sie deutet auf ein Haus auf der anderen Seite des Bachs. „Ich schaue so durchs Fenster und denke: ‚Das gibt’s doch nicht. Die sieht ja aus wie Sandra.‘ Und stell dir vor: Als ich die Kleine dabei beobachtete, wie sie Steine ins Wasser wirft, da war ich mir sicher, dass du es wirklich bist. Sie sieht genauso aus wie du früher. Deine Tochter, nicht wahr?“
„Ja.“ Sandra winkt das Mädchen herbei. „Komm mal her, Jessica. Das ist Gwynneth, meine beste Freundin. Wir kennen uns schon seit ganz-ganz-ganz-ganz vielen Jahren.“
Jessica reicht Gwynn kichernd die Hand und macht einen Knicks.
„Wie wohlerzogen“, sagt Gwynn. „Respekt. Aber kommt doch mit zu mir, da ist es gemütlicher, als hier auf der Brücke.“
„Mama, ich hab Hunger“, wirft Jessi ein.
„Wir wollen zu meinen Großeltern“, antwortet Sandra auf Gwynns Vorschlag. „Aber lass uns doch heute Nachmittag zusammenkommen.“
„Da muss ich arbeiten“, sagt Gwynn. „Nun los, kommt schon. Ich hab auch was ganz Feines zu Essen da.“
Sandra blickt Jessica an, die vor der Brückenmauer steht und zwischen ihr und Gwynn hin- und herschaut. „Was meinst du, Kleines, gehen wir kurz mit?“
Als Jessica sich unschlüssig zeigt, schiebt Gwynn nach: „Ich hab auch einen Sohn, der ist ungefähr so alt wie du. Der freut sich sicher, wenn du uns besuchst.“
Jessica richtet ihren Blick auf Gwynns Haus und erkennt das Gesicht eines offenbar netten Jungen am Fenster. Sie nickt, und noch bevor sie eine Antwort artikulieren kann, klatscht Gwynn in die Hände und ruft: „Prima!“
Wenig später sitzen sie zu viert an einem altertümlichen Tisch aus dunklem Holz, der genau an jenem Fenster steht, aus dem der Junge geschaut hat. Jessica hockt auf einem herrlich weich gepolsterten Stuhl direkt an diesem Sprossenfenster mit Blick auf den Bach, dem Jungen gegenüber, der zwar George heißt, von Gwynn aber nur „Boy“ genannt wird. Neben ihr sitzt Sandra.
Boy sieht lustig aus, findet Jessica, mit wilden braunen Locken, die ihm in die Stirn fallen und sogar die Ohren bedecken. Mit seinen großen dunklen Augen erinnert er sie an ein Alpaka. Jessica muss unwillkürlich lachen. Boy lacht mit.
Gwynn erhebt sich, als ein Wasserkessel pfeift. Sie geht durch einen Steinbogen in die angrenzende Küche, aus der man sie reden hört: „Ihr werdet staunen, was ich hier habe. Bin schon auf eure Gesichter gespannt.“ Wasser plätschert in eine Kanne. „Boy, komm her und verteil schon mal das Geschirr.“
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