Als es sich erholt hat, bittet es: „Mach’s noch mal, Mom.“
Sandra lächelt, streckt langsam den Zeigefinger aus, zieht den Start qualvoll in die Länge, während Jessica bereits vor gierigem Verlangen kichert und sich krümmt. Dann endlich kommt die Erlösung: „Da sieht es aus wie vor ganz-ganz-ganz-ganz langer Zeit.“
Wieder bäumt Jessica sich unter dem Piksen mit dem Finger auf und ist dabei so gut gelaunt, wie lange nicht mehr.
Sandra lacht herzhaft mit. Als die beiden sich erholt haben, fährt sie weiter fort: „Da stehen lauter alte Häuser, eine wuchtige alte Kirche mit Friedhof, und es darf dort nichts verändert werden, damit alles so bleibt, wie es ist.“
Jessica legt einen schwärmerischen Blick auf. „Wie schön.“
„Und weißt du was?“ Sandra hebt die Augenbrauen.
Jessica weiß, wenn Mom so schaut, dann macht sie es spannend. „Nein, was denn? Komm, sag schon.“
„Och, ich sag’s doch nicht. Vielleicht später.“
„Nein, jetzt, Mom. Bitte.“
„Na gut. Aber nur, weil du mein lieber Schatz bist. England ist sehr mystisch!“
„Was bedeutet mystisch?“, will Jessica wissen.
„Das bedeutet ein bisschen so viel wie märchenhaft.“
„Und was gibt es da aus dem Märchen?“, bohrt sie weiter.
Sandra schmunzelt. „Feen, Elfen, Einhörner, Zwerge, Drachen…“
Jessica klatscht in die Hände und hüpft auf dem Bett herum. „Wow wie schön. Werden wir die dort auch sehen?“
„Vielleicht?“
„O jaaa.“ Jessica strahlt über das ganze Gesicht.
„Dann freust du dich, dass wir zu Oma und Opa fahren?“
„Ja, ich freue mich.“
Sandra fällt ein Stein vom Herzen. „Dann lass mich jetzt weiter packen, ja?“
Jessica springt vom Bett auf. „Ja“, ruft sie aus. „Ich decke schon mal den Tisch. Ich habe Hunger.“
„In Ordnung“, sagt Sandra, und während sie sich den Klamotten auf dem Bett widmet, hört sie Jessica fragen: „Warum fahren wir denn eigentlich nach England?“
Die rege Unterhaltung mit dem Mädchen hatte Sandra von ihrer Krankheit abgelenkt, ja, sie hatte sie für ein paar Minuten vollkommen vergessen. Doch nun kracht sie wieder mit voller Wucht in ihr Gedächtnis wie eine Kanonenkugel in eine Kiste. Wie aus dem Nichts treten Magenschmerzen auf. Sandra legt sich ihre zitternden Hände auf den oberen Bauch. Jeder Atemzug, der etwas mehr ist als ein flaches Pumpen, drangsaliert den Magen, als lägen Steine drauf. Sie krümmt sich und liegt wie ein Häufchen Elend auf dem Bett, als Jessica wieder ins Zimmer stürmt.
„Mom! Mama“, ruft sie. „Was ist los? Was ist mit dir? Es ist nicht alles gut. Sag, was ist mit dir?“ Sie beginnt zu weinen. Ihre Lippen zittern. Hilflos steht das Kind im Raum und blickt auf seine Mutter.
Sandra versucht, sich hochzudrücken, schafft es aber nicht. Zu groß ist der Schmerz im mittleren Oberbauch. Sie würde gerne antworten. Stattdessen kann sie nur die Hand heben. Sie tastet nach Jessica und erreicht ihre Wange nur, weil das Kind sich vorbeugt. Plötzlich verspürt sie den Drang, zur Toilette zu eilen. Mit letzter Kraft rafft sie sich auf, verlässt das Bett und stolpert ins Bad, wo sie den Klodeckel hochreißt und sich unter dramatischen Geräuschen übergibt. Immer wieder kommt galliger Magensaft hoch.
Jessica eilt hinzu, kniet sich neben Sandra und legt ihr eine Hand auf den Rücken. „Mama, was muss ich tun?“, fleht sie. „Ich hab solche Angst um dich.“
Sandra reagiert nicht. Zu sehr plagen sie die bitteren Schübe aus dem Körperinneren.
Jessica weint ärger als zuvor. „Ich rufe einen Arzt“, stammelt sie. Planlos läuft sie durch die kleine Wohnung. In der Küche findet sie ihr Handy. Sie ergreift es, erinnert sich aber im gleichen Augenblick, dass sie kein Guthaben mehr hat. Sie sucht Sandras Handy. Als sie es auf dem Nachttisch entdeckt und an sich nimmt, ertönt ein Glockenton. Auf dem Display steht zu lesen: ‚Ladegerät anschließen‘. Sie läuft kreuz und quer durch die Wohnung, sucht das Ladegerät, während sie weiterhin das Leiden ihrer Mama aus dem Bad wahrnimmt. Sie stürzt zurück in die Küche, findet nichts, ins kleine Wohnzimmer, durchwühlt jede Schublade – nichts. Zurück ins Schlafzimmer. Da, die Handtasche auf dem Bett. Jessica reißt sie auf. Ein schwarzes Kabel mit Stecker dran bietet sich ihr an. Sie fingert es heraus – Gott sei Dank: Das Ladegerät. Sie und Mom haben nur dieses eine gemeinsame, so, wie sie sich auch diese Wohnung und das Bett teilen. Hastig fingert sie das Kabel in den schmalen Slot an der Seite des Handys, doch bevor sie den Stecker in eine Steckdose stecken kann, erlischt es. Derweil werden Sandras Würggeräusche intensiver. Es scheint, dass ihre Innereien mit hochkommen, und zwischen zwei Schüben hört es sich an, als ob sie laut weint. Derweil presst Jessica ihren Daumen auf den Schaltknopf. Es dauert lange. Endlos lange. Das Handy reagiert: ‚Geben Sie ihre PIN ein – noch 3 Versuch(e)‘. Die PIN! Jessica eilt ins Bad, wo ihre Mutter schlaff und kraftlos vor der Toilette kniet. „Mom, deine PIN“, schluchzt Jessica.
Sandra ereilt ein Würgreflex nach dem andern, der sich mit krampfhaftem Husten abwechselt.
Jessica erkennt, dass sie keine Antwort erhalten wird und stürzt wieder zurück ans Handy. Sie versucht Moms Geburtstag und erhält die Meldung: Sie haben noch 2 Versuch(e). Ihr eigener Geburtstag – noch 1 Versuch(e). „Was mach ich nur?“ Sie weint bitterlich. „Lieber Schutzengel, bitte hilf mir. Wie lautet Mamas PIN? Bitte, ich muss den Arzt rufen!“ Sie schaut auf das Handy, als erwarte sie dort die Antwort. Es ist kein Smartphone und schon gar nicht ein iPhone. Es ist ein 0815-Klotz. So hat Sandra es einmal genannt. Das ist es! Mama ist so kreativ, dass sie 0815 als PIN genommen haben könnte. Aber was, wenn sie nicht stimmt? Jessica kennt sich nicht so gut aus mit Handys. Ob das Teil kaputt ist, wenn man dreimal eine falsche Nummer eingibt?
Im Bad ist es gerade still. Vielleicht geht es Mom ja besser? Vielleicht braucht sie keinen Arzt? Doch gerade, als Jessica das Handy ablegt und nach ihr schauen will, hört sie ihre Mutter erbärmlich weinen. Sie schnappt sich das Handy und tippt mit zittrigen Fingern 0-8-1-5 ein. Als sie den Daumen auf den OK-Knopf legt, pocht ihr kleines Herz zum Zerbersten. Wie von einer fremden Macht gesteuert, drückt sie den Knopf…
Das Display zeigt eine von einem blechern klingenden Sound begleitete Grafik. Das Handy ist wahrhaftig wieder zum Leben erwacht. Hastig blättert sie das Adressbuch durch. Bei Dr. Schröder erlebt sie einen Freudentaumel. Sie wählt diesen Eintrag aus und drückt auf den grünen Hörer. Doch anstatt einer Verbindung, bekommt sie die Nachricht: Kein Netz!
Jessica schreit verzweifelt auf, als Sandra in der Tür erscheint. Kraftlos lehnt sie am Türrahmen. Ihr Kopf ist rot und aufgedunsen, die langen blonden Haare sind strähnig und verklebt, und sie reibt sich die verquollenen Augen. „Was machst du da, meine Kleine?“, fragt sie.
„Ich will einen Arzt anrufen“, antwortet Jessica. „Aber wir haben kein Netz.“
Sandra drückt sich ein Taschentuch vor den Mund und begegnet damit ihrem nun unkontrollierbaren Speichelfluss. Sie tupft sich den Mund trocken und sagt: „Ich weiß. Sie haben das Handy gesperrt, weil ich die Rechnungen nicht mehr bezahlen konnte. Aber morgen fliegen wir ja nach England. Dann brauchen wir das Handy nicht mehr.“
„Aber der Flug kostet doch auch Geld“, antwortet Jessica. „Wie sollen wir den denn bezahlen, wenn wir keines haben?“
Sandra schlurft zum Küchentisch und sinkt auf einen Stuhl nieder. Das Gesicht in die Hände gestützt, murmelt sie: „Unsere Vermieter waren so lieb und haben uns die letzte Miete geschenkt, damit wir nach Hause fliegen können.“
Das ist natürlich eine sehr freie Umschreibung der Tatsachen. Ja, die Vermieter haben ihr die letzte Miete erlassen, mit den Worten: „Die brauchst du nicht mehr zu bezahlen. Verpisst euch einfach und kommt nicht wieder.“ Nicht, dass Sandra nicht hatte bezahlen wollen, nein, sie konnte es nicht, und so war sie in letzter Zeit immer wieder in Rückstand geraten. Als ihre Schmerzen anfingen, wurde das Geld immer knapper. Hatte sie vorher noch in einer Kneipe gejobbt, um sich und Jessica über Wasser halten zu können, so war ihr das immer seltener möglich, sodass sie am Ende fast gar keine Einkünfte mehr erzielte. Zwar könnte sie eine kleine Unterstützung vom Amt erreichen, aber die Bearbeitung des Antrags dauert immer noch an. Bisher kann sie keinen Geldeingang auf dem Konto verzeichnen. Sandra schaut Jessica aus rotgeränderten, wässrigen Augen an. „Wenn wir in England sind, wird alles besser, mein Schatz.“
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