Jessica stellt sich neben ihre Mutter und streichelt ihr den Rücken. „Ja, in England wird alles besser. Wann geht denn unser Flug?“
„Morgen Nachmittag. Eine Bekannte holt uns um 12 Uhr ab und bringt uns zum Flughafen. Und dann: Good bye, Germany.“ Sandra bringt ein schwaches Lächeln zustande, und Jessica reibt ihr den Rücken etwas schneller. „Geht es dir wieder besser?“, fragt sie.
„Ja, danke. Ich muss mir irgendwie den Magen verdorben haben. Mach dir keine Sorgen, versprochen?“
„Versprochen“, antwortet Jessica. Doch hinter ihrem Rücken kreuzt sie zwei Finger.
2. Kapitel – Hello England
Durch eine große, helle, recht leere Halle wird ein Gepäckwagen geschoben, auf dem ein abgenutzter Koffer sich in Gesellschaft von drei Plastiktüten und einer in die Jahre gekommenen Handtasche befindet. Das Bild, das die beiden Damen damit abgeben, lässt absolut nicht vermuten, dass sie gerade einen One-Way-Flug absolviert und nicht die Absicht haben, wieder dorthin zurückzukehren, wo sie hergekommen sind. Das ratternde Gepäckband haben sie bereits hinter sich gelassen. Eine schallende Stimme ruft zu zwei Flügen auf, für die die Gates nun geöffnet sind. Hoch über den Eingängen, die in die weite Welt führen, zeigen Tafeln die Ankünfte und Abflüge an. Auf der Abflugtafel findet Sandra einen Flug nach Berlin. Er würde in einer Stunde starten. Ein wohliger Seufzer entfährt ihr bei dem Gedanken, dass sie dieses Gate wohl nie mehr benutzen wird. England hat sie wieder – für immer, wenn vielleicht auch nicht für lange.
Die Gepäckstücke befinden sich erst seit ein paar Minuten auf dem Trolley. Ihn durch die Ankunftshalle des Bristoler Airports zu schieben, hat Jessica sich zur Aufgabe gemacht. Sie hat richtig Spaß daran, bringt den Wagen in Fahrt und hängt sich über die Griffstange, sodass sie mit dem Gepäck mühelos schneller ist, als ihre Mutter, die, obwohl nur mit einer Umhängetasche beschwert, kaum folgen kann. Zu sehr hängt ihr noch der gestrige Anfall in den Knochen. Sie ist heilfroh, wenigstens auf dem Flug vor Attacken verschont geblieben zu sein, für die sie immerhin allen Grund gehabt hätte, saß doch dieser krausbärtige Mann in ihrer Nähe. Er hat horrende Erinnerungen in ihr geweckt und schlimme Ängste geschürt. Er sah ihrem Peiniger nicht nur ähnlich, er war es wirklich, da ist Sandra sich sicher. Beim Aussteigen ist er jedoch ihren umsichtigen Blicken entglitten.
Was will der verdammte Kerl hier in England? Seine vermasselte Tötungsabsicht von vor zehn Jahren endlich zum Abschluss bringen? Unwillkürlich reibt sie sich die Stelle am Bauch, in die damals sein Stilett mehrmals eingetaucht war. Er und seine Kumpels hatten ihr auch den Geldbeutel abgenommen, in dem nicht mehr als 20 Euro drin gewesen waren und sie blutend auf dem schmutzigen Berliner Pflaster zurückgelassen. Sie hatte nie viel Geld besessen, und aktuell ist sie blanker, als jemals zuvor.
Was für ein Glück, dass der Flug wahnwitzig billig gewesen war, so billig, dass Sandra sich nun sogar ein Taxi nach Combe Manor leisten kann. Die Bekannte hatte ihr den Flug über ein Vergleichsportal gebucht. Er war so günstig, dass Sandra sich allen Ernstes fragte, wie da noch jemand was dran verdienen konnte, nach Abzug von Gebühren, Treibstoff- und Personalkosten. Aber natürlich war es ihr recht, fast umsonst – selbst für ihre finanziellen Verhältnisse - in die alte Heimat zurückgefunden zu haben.
Obwohl Sandra sich nicht als Spirituelle bezeichnen würde, liebt sie den Gedanken, das Schicksal habe sie zurück nach England gebracht. Fast ist sie geneigt zu denken: ‚Für ein besseres und glücklicheres Leben‘. Doch dann sieht sie ihre Tochter mit dem Gepäckwagen davoneilen, spürt ihre Schwäche und erinnert sich an ihre Krankheit. Wie eine schlechte Nachricht aus einem versiegelten Umschlag taucht sie plötzlich auf und drosselt ihre Atemluft. „Nicht so schnell“, ruft sie Jessica hinterher, die sich immer weiter von ihrer Mutter entfernt und das gar nicht merkt. Erst jetzt, da Mama sie ruft, bremst sie den Trolley ab, schaut sich um und ist erstaunt, wie weit sie noch zurückliegt. Sie hebt die Hand, so hoch sie kann und winkt ihr zu.
Aber Sandra winkt nicht zurück. Es ist ihr deutlich anzusehen, wie schwer ihr das Laufen fällt, das eigentlich gar kein Laufen ist. Es ist ein Sich-dahinschleppen. Waren ihre langen blonden Haare im Flugzeug noch ordentlich und sogar ein wenig glänzend, so wirken sie nun mit einem Mal fahl und zerzaust, als hätte sie jemand mit einem bösen Zauber belegt. Jetzt, wo Jessica auf sie wartet, verlegt Sandra sich aufs Gehen. Sie möchte sich erholen und zu Atem kommen, damit das Mädchen nicht ihre Schwäche bemerkt, aber es gelingt ihr nicht. Sie fühlt sich, als hätte sie einen Sprint hinter sich gebracht, um einem bissigen Hund zu entkommen. Sandra hat keine andere Wahl, als eine Bank anzusteuern, die nur ein paar Meter von ihr entfernt ist und darauf zu warten scheint, ihr Gewicht aufzunehmen. Dort angekommen, stützt sie sich an der Rückenlehne ab, hält sich die Hand vor die Brust, beginnt zu keuchen und sinkt kraftlos auf die Sitzgelegenheit. Ein Hustenanfall schüttelt sie plötzlich, der, gefolgt von einem Würgen, schnell ihren Hals brennen lässt, als habe sie pure Essigessenz getrunken. ‚Nur nicht übergeben‘, schießt es ihr durch den Kopf. Ihre Augen füllen sich mit Wasser und hindern sie daran, etwas zu sehen. Aber spüren kann sie noch. Eine Hand, die sich auf ihre Schulter legt - und hören kann sie, eine Stimme, die „Mama“ sagt. Wie blind, durchwühlt sie ihre Umhängetasche, in der Hoffnung, ein Papiertaschentuch zu ertasten. Und ja, da ist eines. Sie zupft es aus dem Päckchen heraus und wischt sich die Augen frei. Schuldbewusst schaut sie Jessica an. Wie lange kann sie ihr Lügengerüst noch aufrechterhalten, ohne, dass es zusammenbricht und Jessica mit ihr mitleidet? Das Kind ist aufgeweckt und von schneller Auffassungsgabe. Gestern war es der verdorbene Magen, der zur Erklärung herhalten musste, in den drei Tagen davor eine angeblich heranrollende Grippe. Und heute? Soll sie den Anfall auf den Flug schieben? Sie schaut in Jessicas Augen und erkennt darin Offenheit. Nicht für eine weitere Lüge, sondern für die Wahrheit. „Jessi-Schatz, ich…“
In ihrer kindlichen Weisheit unterbricht sie ihre Mom. „Lass uns ein Taxi finden, damit wir schnell zu Oma und Opa kommen und du dich erholen kannst“, sagt sie.
Sandra nickt dankbar.
Diesmal rast Jessica nicht mit dem Trolley davon. Sie bleibt neben ihrer Mutter und hält Ausschau nach einem Zeichen, das ihnen den Weg zu den Taxen zeigt. Enthusiastisch deutet sie darauf. „Da, Mom, schau. Da geht’s zu den Taxis.“
Sandras Anfall ist noch immer nicht vorüber. Sie hält sich das Taschentuch vor den Mund, als könne sie damit das Würgen aufhalten. Das Gesicht ist rot und aufgedunsen, und im Magen scheint wieder dieser Stein zu liegen. Die durch die wässrigen Augen verschwommene Wirklichkeit gibt nur spärlich einen Eindruck von der Umgebung wieder, aber als sie sich erneut die Augen freimacht, erkennt auch Sandra das Zeichen, dem sie folgen müssen.
Als sie endlich in der Droschke sitzen – Sandra hätte sich ein original englisches Taxi gewünscht, doch leider hält das Universum nur eine beige 0815-Karrosse für sie bereit – geht es ihr mit einem Schlag wieder gut. Sie freut sich einfach riesig auf Combe Manor. Ihr plötzliches Wohlgefühl reduziert die Reaktion des Fahrers auf ihre angeschlagene Erscheinung auf ein Stirnrunzeln. Sandra, die mit Jessica im Fond des Wagens sitzt, bekommt das nicht mit.
Der Fahrer schaut in den Rückspiegel. „Soll ich die Autobahn nehmen? Das ist zwar drei Meilen weiter, als über die Landstraße, aber zehn Minuten schneller.“
„Mom, der Mann sitzt ja auf der falschen Seite“, flüstert Jessica.
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