Karen und Brian sitzen fast entspannt auf dem Sofa, als sei nichts geschehen. Die Zeitung liegt inzwischen wieder auf dem Tisch, und die Lesebrille ebenfalls. Karens Augen sind geschlossen, aber die Lider zucken.
„Hast du den Flug nicht vertragen?“, fragt Brian.
Sandra hebt die Schultern. Als sie spürt, dass Jessica sie anschaut, begegnet sie ihrem Blick, der überdeutlich darum bittet, die Großeltern in ihre Krankheit einzuweihen. Da Sandra glaubt, dass es dazu noch zu früh ist, bittet sie Jessica stumm um Schweigen und sagt: „Dürfen wir hier wohnen, Opa? Bitte. Ich weiß sonst nicht, wohin.“
Brian blickt zur Decke, als zähle er jetzt die Blüten. „Von mir aus“, sagt er.
„Für eine Woche“, fügt Karen hinzu. „Nicht länger. Das ist Zeit genug, eine neue Bleibe zu finden.“
„Wo soll ich denn hin? Ich habe doch auch kein Geld.“
„Eine Woche“, wiederholt Karen. „Es ist für uns alle das Beste.“ Karen möchte mit ihrer Ablehnung noch ausführlicher werden, lässt es aber dann doch bleiben, weil Sandra erneut zur Toilette flieht.
In einem kleinen Zimmer von nur zehn Quadratmetern, mit schrägen gelben Wänden und voller Gerümpel, liegt Sandra mit ihrer Kleinen in einem muffig riechenden Bett, das sich irgendwie feucht anfühlt, obwohl es trocken ist. Aber die dicke Decke, unter der sich die beiden verkrochen haben, hält ungewöhnlich warm. Ein Teil des Zimmers geht an einen wuchtigen Kamin verloren, der ein wenig den Raum wärmt, weil das Erdgeschoss mit Holz beheizt wird. Sandra möchte ihn umarmen. Sie fühlt sich fast ein wenig wohl, wohler zumindest, als in Berlin. Die erste Nacht in England, in ihrem Elternhaus, bei Oma und Opa. Es scheint, als hätte Opa nur für sie den Kamin erwärmt, als Wiedergutmachung für den frostigen Empfang am Nachmittag.
Neben dem Kamin lässt ein Sprossenfenster etwas Licht von draußen herein. In der fahlen Helligkeit fällt das Gerümpel fast nicht auf, und gegenseitig spenden die beiden Damen sich ein wenig Behaglichkeit.
„Geht es dir wieder gut?“, fragt Jessica.
„Ja, mein Schatz.“
„Wirklich gut? So richtig-richtig gut?“
Sandra streckt ihren Zeigefinger aus und hält ihn so in Richtung Fenster, dass Jessica ihn im fahlen Licht erkennen muss, so sie denn die Augen offen hat. Sie windet sich und kichert. Ja, sie hat sie auf. Sandra lässt den Finger unter der Decke verschwinden, hält Jessica fester in ihrem Arm und piekst sie mehrmals auf die kurzen Rippen. „Ja, so richtig-richtig-richtig-richtig gut, mein Schatz.“
Das Kind bäumt sich laut lachend auf, entspannt sich aber wieder, als Sandra die Hand auf die Decke legt. „Ich freu mich, Mama“, sagt sie. „Du schaffst das. Du wirst wieder ganz gesund.“
„Natürlich, mein Schatz!“
Sie schweigen, und Sandra ist schon fast eingeschlafen, als Jessica fragt: „Mama?“
„Ja, Kleines?“
„Sind Einhörner böse?“
Sandra streichelt Jessicas Kopf. „Unsinn, wie kommst du denn darauf?“
„Wir sind doch hier in Unicorn Lodge. Wenn Einhörner liebt wären, dann müssten doch auch Oma und Opa lieb sein.“
„Sie haben mich lange nicht gesehen“, erklärt Sandra. „Das wird schon, sei beruhigt. Sie müssen sich erst wieder an mich gewöhnen. - Bist du eigentlich satt geworden?“
„O ja“, sagt Jessica. „Das war lecker. Fish and Chips ist Englisch, nicht wahr?“
„Ja“, bestätigt Sandra, „so Englisch wie Cream Tea.“
„Dann werde ich das jetzt jeden Tag essen. Darf ich?“
„Wann immer wir die Möglichkeit dazu haben, werden wir Fish and Chips essen“, antwortet Sandra. „Aber jetzt schlafen wir erst mal, okay?“ Sandra spürt, wie Jessica in ihrem Arm nickt. Sekunden später ist sie eingeschlafen. Sie schiebt die Kleine vom Arm runter, dreht sich um und schläft ebenfalls schnell ein.
Die Nacht war erholsam, so erholsam, wie sie in einem engen Raum voller Gerümpel nur sein kann. In dieser Nacht, in der sie vor Anfällen verschont geblieben war, hatte Sandra eine Vision, die sie gleich heute in die Tat umsetzen möchte. Dazu braucht sie das Auto ihrer Großeltern.
Sie sitzen zu viert an einem runden Frühstückstisch. Er steht an jenem Fenster zur Straße hin, an dem Sandra ihren Opa gestern hinter der Gardine sah. Diese trübt zwar ein wenig den Blick auf die Straße, aber das macht gar nichts. Sie trübt absolut nicht das Gefühl an die Kindheit und Jugend, die zwar nicht wirklich glücklich war, aber doch zumindest behütet. So behütet wie jetzt, da sie wieder zusammen frühstücken, wie früher, während die nahe Straße von der Morgensonne erhellt wird.
Die Pearsons können es sich leisten, zwei weitere Mäuler zu füttern. Soweit Sandra denken kann, hat es ihnen nie an Geld gemangelt. Das sieht man auch heute noch an ihrer Kleidung, ihr Alter hin oder her. Sie sprachen nie über Geld und kauften einfach, was sie haben wollten. Zwar ist das Haus, in dem sie wohnen, keine Nobelvilla, aber würde jemand so ein niedliches kleines Lodge mit jahrhundertealter Geschichte und viel Flair hergeben, wenn er sowieso nicht mehr Platz brauchte? Die Einrichtung ist dem gemütlichen Häuschen adäquat, und irgendwie wird es der Mystik seines Namens gerecht: Einhorn-Häuschen.
Brian, wie gestern mit grünkarierter Hose und grünem West bekleidet, ist hinter seiner Zeitung verschwunden. ‚Eigentlich war er noch nie anders angezogen‘, denkt Sandra. Hin und wieder tastet seine mit wenigen Altersflecken verzierte Hand nach der Teetasse, worauf ein Schlürfen zu hören ist, und dann stellt sie sie wieder ab.
Karen, die offenbar wirklich so schwach und zittrig ist, wie sie tut, sitzt neben Brian und beschmiert einen Toast mit Butter und Orangenmarmelade. Es scheint ihr sogar schwer zu fallen, das Messer zu heben und ins Marmeladenglas zu tauchen.
Die Fröhlichste am Tisch ist Jessica. Sie erfreut sich an den knusprig-frischen Toastscheiben – und am Tee, den sie bisher noch nie getrunken hat. In Berlin gab es immer nur Kaffee für Mama, und Kaba für sie.
Sandra, gedankenverloren, mit der dampfenden Teetasse in den Händen, die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, schaut ihren Großeltern eine Weile zu. Sie nimmt einen Schluck und sagt: „Opa, würdest du uns heute dein Auto leihen?“
„Nein!“
Sandra muss schlucken. Wie aus heiterem Himmel, braut sich im Oberbauch ein Drama zusammen. Hastig stellt sie die Tasse ab und legt sich beide Hände auf die Stelle, wo der bekannte Basaltstein zu liegen scheint. Sie atmet schwer, kriegt sich aber wieder in den Griff. Langsam ebbt der Schmerz ab. Mit ihm verschwindet aller Appetit, am Essen und am Trinken.
Brian liest immer noch in der Zeitung und hat nicht mitbekommen, wie sehr seine Antwort Sandra zugesetzt hat. Nur Karen hat ihre Enkelin für einen Moment angeschaut, ohne zu wissen, wie sie auf die erneute Übelkeit reagieren sollte. Sandra glaubt, einen Funken Mitgefühl verspürt zu haben. Vielleicht hat dieser Funke es geschafft, einen Anfall zu verhindern. „Wir haben kein Auto mehr“, sagt die Oma dann auch fast freundlich.
Sandra, sehr angetan von dieser wohlgemeinten Erklärung, erhebt sich mit wackligen Knien, geht um den Tisch herum zu Karen und streichelt ihre Schulter. „Danke, Oma. Dann frage ich Gwynn, vielleicht hat sie eins.“ Sie setzt sich wieder neben Jessica.
Nun senkt Brian die Zeitung, trinkt seine Tasse leer und fragt: „Was willst du denn mit dem Auto?“
Der Schmerz im Oberbauch ist fast wieder verschwunden, und Sandra freut sich über Opas Frage. Immerhin scheint er damit ein wenig Interesse an ihr zu zeigen. „Ihr wart doch schon mit mir in Stonehenge“, erklärt sie. „Da möchte ich mal hin. Mir geht es momentan nicht so gut. Vielleicht finde ich dort Linderung.“
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