Suse suchte eine Stelle, an der die Farne etwas auseinanderstanden, und bohrte den Federkiel in den Boden. Sie blieb davor hocken und schaute die aufrechtstehende Feder an. Wie lange mochte es wohl dauernd, bis sie groß war? Bis nächstes Jahr vielleicht? Dann würde sie kommen und ganze Obstkisten voller Federn pflücken. Und sich ein Kleid daraus machen, eins mit dem man fliegen konnte. Über den Baumwipfeln, anstatt immer drunter herzulaufen. Vielleicht sogar über die Wolken, bis nach Amerika und zurück.
Ein greller Blitz durchzuckte ihre Gedanken. Ein mächtiger Donner krachte. Suse hob die Arme, um ihren Kopf zu schützen. Der Wald stand schwarz im Regen. Suse verlor das Gleichgewicht und kippte aus der Hocke nach hinten um. Vor ihr stand ein Geist.
"Oh, ich habe Dich erschreckt", sagte eine leise klappernde Stimme. "Das wollte ich nicht. Weißt Du nicht, dass ich komme, wenn Du die Feder in den Boden steckst?"
Suse schüttelte stumm den Kopf und schaute auf die Füße vor sich. Sie waren riesig und nackt. Da, wo die Waden beginnen sollten, saßen graue Federn mit schwarzen Spitzen. Langsam wanderte ihr Blick daran hoch. Der Geist hatte keine Arme, er hatte Flügel, und er trug einen Vogelkopf mit schwarzen, irgendwie schimmernden Knopfaugen und einem langen, roten Schnabel, der beim Reden klapperte.
"Du wirst ganz nass", sagte der Geist und breitete seine Flügel über Suse aus wie einen Regenschirm. "Es ist nur ein Sommergewitter."
Suse guckte unter dem Flügel hervor: "Bist Du ein guter Geist oder ein böser?"
Der Geist lachte klappernd. "Bist Du ein gutes Mädchen oder ein böses?“
Suse lächelte, aber ihre Lippen zitterten. Der Stoff ihres Kleides fühlte sich klamm an. Als sie den Mund aufmachen wollte, klapperte sie mit den Zähnen.
"Was machst Du hier überhaupt? Und wie heißt Du?"
"Ich bin Suse. Und wir spielen Verstecken."
"Wer wir? Hier ist niemand außer Dir."
"Doch, meine Schwester Fritzi und Tommi und Georg und Krücke und der Hund. Krücke muss mich suchen."
Die schwarzen Augen des Geistes sahen Suse an. Der Schnabel klapperte lange nicht.
"Bist Du weit gelaufen?“, fragte er dann. Suse zuckte mit den schmalen Schultern. "Weiß ich nicht." Ihr Kleid fühlte sich klamm an.
Der Geist kniete sich hin. "Komm, spring auf meinen Rücken und halt Dich gut fest. Zuerst müssen wir Dich trocken kriegen. Das geht am besten mit warmer Luft."
Suse sah ihm zweifelnd in die Augen, dann stand sie auf und sprang auf den Rücken des Geistes. Sie sank in die weichen Federn.
"Achtung!", sagte der Geist und wandte ihr ein Auge zu. "Wir erheben uns."
Sie gewannen bald an Höhe. Der Wind rauschte Suses Ohren vorbei, die Abendsonne war auf Augenhöhe, die Tannen, Kiefern, Fichten unter ihr schienen schräg zu stehen. Über die Schultern des Geistes sah sie über die Wiesen, sie hatte gar nicht gewusst, wie rechteckig die waren, wie zum Trocknen ausgelegte Handtücher in verschiedenen Grüntönen. Überall schwarze Tupfer, das mussten Maulwurfhügel sein. Alle Wiesen waren damit übersät. Aber dass es so viele waren, hatte sie nicht geahnt.
Da unten bewegte sich etwas. Vier Kinder und ein schwarzer Hund. Sie strebten auf das Spielzeugdorf zu.
"Da ist Fritzi!“, schrie Suse gegen den warmen Wind. "Und die anderen. Huhu!" Sie hätte gern gewinkt, aber sie musste sich doch festhalten.
"Sie können Dich nicht sehen", klapperte der Geist. "Echte Geister sind unsichtbar und alles, was mit ihnen in Berührung kommt, wird es auch."
"Sie gehen nach Hause", rief sie dem Vogelkopf zu, dahin, wo sie sein Ohr vermutete. "Zum Abendessen. Bei uns gibt es heute Würstchen."
Der Geist antwortete nicht.
Sie haben mich nicht gesucht, dachte Suse. Sie sind einfach weggegangen und haben mich nicht gesucht.
Fritzis Rad blitzte in der Sonne auf. Tommi warf einen Stock und der schwarze Punkt, der der Hund war, wurde schneller und kugelte über die Wiese. Georg war der Größte, und Suse konnte sehen, wie er nach Krücke trat, der wie von einem Gummiband gezogen, sich von ihm entfernte und wieder näherkam.
Suse drehte den Kopf in die andere Richtung.
Eine fette, weiße Wolke zog über das Dorf, aber niemand sah sie, denn die Sonne war untergegangen. Hier und da leuchteten quadratische Lichter. Suses Fenster stand offen und ein Nachtwind wehte die Vorhänge auf. Ganz vorsichtig legte der Geist das schlafende Kind ins Bett und deckte es zu. Am Morgen lag neben Suses Kopfkissen die Feder.
In Wirklichkeit war alles anders. Irgendwann hatte Suse begriffen, dass der Wald verstummt war. Kein Laut von den anderen. Tommi, Fritzi, Georg, Krücke, waren weg, und es hatte wenig Sinn, noch länger unter den Farnen zu hocken. Der Hexenwald, feucht, tropfend, knackend, schien ihr auf einmal unheimlich dunkel, und sie begann zu singen, um das Murmeln des Baches nicht zu hören, in dem ein Toter lag, ganz sicher. Ihr Herz schlug so schnell, dass sie rennen musste und so rannte sie den Weg bergauf, während das nasse Kleid zwischen ihren Beinen klebte und scheuerte. Sie trat aus dem Wald, sah die weite Wiese hinunter auf das Dorf, das Elternhaus am Rand des Neubaugebietes, ein Raubvogel kreiste im Himmel, die Erde duftete intensiv. Hoffentlich kam sie nicht zu spät, hämmerte ihr Herz.
Sie erreichte das Haus, ging an der Garage vorbei, die Kellertreppe hinunter, öffnete die Tür zur Waschküche, hoffte, dass Mama sie nicht sah, nicht hörte. Die Waschmaschine knackte und drehte sich dann immer schneller, davor lagen Handtücher, Bettlaken, Hosen in großen Wannen.
"Schuhe aus! Wie oft soll ich das noch sagen!“, schrie ihre Mutter vom Treppenabsatz herunter. "Und die Tür zu, es zieht!"
Suse zog die Sandalen aus und rieb hektisch den Schmutz zwischen den Zehen weg, schlüpfte in ihre Hausschuhe, stieg die Treppe hoch, betrat die Küche, eine große Wohnküche. Fritzi saß schon am Tisch, die drei kleinen Brüder auch. Tobias war fünf, die Jüngsten vier und ein Jahr alt und hatten alle blonde Haare. Unter dem Tisch hockte der Rauhaardackel, ein kräftiger, frecher Hund. Es war Mamas Rauhaardackel. Nachts schlief er neben ihrem Bett und manchmal, wenn Papa nicht da war, auch zu ihren Füßen auf der Matratze. Die Jungen fütterten ihn mit zusammengedrückten Brotkugeln.
Papas Platz war leer, er war auf einer Tagung, keiner der Kinder wusste, was das bedeutete, jedenfalls blieb er über Nacht weg, vielleicht auch zweimal.
Die Mutter stand am Herd und sah Suse nicht an, als sie eintrat. "Ach, die Gnädigste, wie wir uns freuen, dass Sie uns mit Ihrer Anwesenheit beehren. Hier, pass auf die Milch auf, dass sie nicht überkocht."
Suse stellte sich neben den Herd und schaute in den Topf.
"Los! Die Teller auf den Tisch. Muss ich denn alles alleine machen?" Mamas Kopf deutete zur Anrichte.
Suse hob die Augen vom Milchtopf und drehte sich zur Anrichte um. Sie nahm den Tellerstapel herunter und balancierte ihn vorsichtig zum Tisch.
Die drei kleinen Brüder schlugen mit Löffeln auf den Tisch. "Wir haben Hunger, Hunger, Hunger!“, riefen sie im Chor und der jüngste quiekte fröhlich mit.
Der Hund unter dem Tisch bellte und wedelte mit dem Schwanz. Fritzi malte mit dem Finger die Karos der Wachstuchtischdecke nach.
"Wenn ich das schon sehe", rief die Mutter. "Gib bloß die Teller wieder her, Du Trampel."
Suse erschrak, als ihr die Teller von hinten entrissen wurden, beinahe wäre der ganze Stapel auf den Boden gefallen.
"Spinnst Du?“, entfuhr es ihr. Gleichzeitig zog sie die Schultern hoch und ging zwei Schritte zurück, entgeistert über das, was ihr da entfahren war. In diesem Augenblick kochte die Milch über.
Die Mutter verwandelte sich in ein schwarzes Maul. "Bin ich Euer Hanswurst?“ Ihre Stimme gellte.
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