Fritzi starrte die Flasche an. Der Geist von der Klosterfrau Melisse. Oder der von Oma. Sie hatte einen echten Geist gefunden, das musste jeder anerkennen, denn es stand auf dem Etikett. Sie schüttelte die Flasche und es gluckste. Fritzi gluckste auch. "Ich habe einen echten Geist und das beste Versteck."
Das beste Versteck nützt nichts, wenn man darüber nicht Stillschweigen bewahren kann. Nie hätte Krücke zum Jägerstand hochgesehen, und wenn, wäre er viel zu faul gewesen, hinaufzuklettern. Er war schon eine Weile lustlos vor sich hin gestolpert, seine Lederhose schwer von Wasser zog ihn zusätzlich nach unten. Sein Auge war zugeschwollen, aber ohne Zuhörer greinte er nicht. Eigentlich wartete er nur darauf, dass Zeit verstrich und er zu Georg zurückkehren konnte. Er würde behaupten, alles abgesucht zu haben. Georg konnte ihn dann nicht mehr fortschicken. Sie würden gemeinsam auf die anderen warten.
Dass Fritzi zu singen begann, war ein Glücksfall für Krücke. So tanzte er um die dunkelbraunen Balken und rüttelte daran, als wollte er Fritzi herunterschütteln. "Ich hab Dich. Ich habe Dich."
Fritzi ärgerte sich nicht lange. Sie rief herunter: "Geh da weg", und stieg vorsichtig ein paar Sprossen herab. Den Rest sprang sie und landete sicher im weichen Gras, in der Hand die Flasche.
"Wo hast Du denn die her?“, fragte Krücke und streckte seine Finger danach aus.
Fritzi brachte die Flasche aus seiner Reichweite. "Da ist ein echter Geist drin, kannste lesen." Sie drehte das Schild zu ihm herum.
Krücke war beeindruckt. "Lass mich mal reinsehen."
"Da gibt es nichts zu sehen. Ein Geist ist unsichtbar. Das ist durchsichtig, wie Wasser." Sie hielt die Flasche hinter ihren Rücken. "Hast Du die anderen schon gefunden?"
"Nur Dich und Georg. Georg hat mich geschlagen. Guck." Er wies auf sein Auge. "Jetzt mag ich nicht mehr. Das ist sowieso unfair. Der Wald ist viel zu groß und zu dunkel. Wo soll ich denn noch suchen? Ich war schon überall." Er tupfte mit einem Finger vorsichtig über die Schwellung. "Guck doch!"
Fritzi guckte lieber zum Himmel. Die Wolken wurden immer dicker und weißer. Sie quollen aus dem Nichts zusammen und unter ihnen wurden die Schatten dunkler.
Sie sagte nichts dazu, nur: "Lass uns gehen."
Als sie beim Fahrrad ankamen, saß da nicht nur Georg, sondern auch Tommi und der Hund, der freudig mit dem Schwanz wedelte. Tommi hatte sich nach seinem Nickerchen in der Grube erheblich gelangweilt und sein Versteck ohne Zögern aufgegeben, als er Georg zwischen den Bäumen auftauchen sah. Seit zehn Minuten saßen sie schon zusammen und spielten Karten mit einem Schiffsquartett, dass Tommi immer in der Tasche hatte.
"Huhu", da kommt mein Geist", rief Georg den beiden entgegen, mein Quälgeist." Krücke duckte sich.
Tommi lachte meckernd. "Und da ist meiner." Er klopfte dem Hund an den Hals.
"Das gilt nicht, das gilt nicht", krächzte Krücke, der sich diesmal Fritzis Unterstützung sicher war.
"Halt´s Maul", sagte Fritzi.
"Eigentlich habe ja doch ich gewonnen", überlegte sie laut, nachdem sie sich auf ihr Rad gesetzt hatte. Sie schob es im Moos vor und zurück, und die Reifen rissen eine Furche hinein. "Ich bin als Letzte gefunden worden. Und ich habe einen Geist in der Flasche."
"Schade, dass man den nicht essen kann, ich habe nämlich Hunger", ließ Georg sich vernehmen. "Wollen wir nicht langsam nach Hause gehen?"
"Erst will ich Fritzis Geist sehen", beharrte Krücke, dem dieser Tag vorkam wie eine lange Strecke einzelner Niederlagen.
Auch Tommi konnte nicht einsehen, was an einer durchsichtigen Flüssigkeit in einer durchsichtigen Flasche geistig sein sollte. Ein echter Geist konnte man nur sein, wenn man etwas bewirkte, was ein Mensch nicht bewirken konnte.
Fritzi blickte in drei erwartungsvolle Gesichter, in denen sich schon die Schadenfreude abzeichnete. "Soll ich die Flasche etwa aufmachen? Dann ist er doch weg!"
"Ausrede. Ausrede", rief Krücke.
"Mach schon", sagte Tommi.
"Gib her, wenn Du Dich nicht traust", Georg streckte die Hand aus.
Fritzi stellte das Rad an den Baum zurück und drehte entschlossen den Deckel der Flasche ab. Es zischte nicht einmal. Auf Krückes Gesicht stand schon das, was er gleich sagen wollte. Fritzi kippte den Flaschenhals langsam nach unten.
"Klosterfrau Melissengeist!", deklamierte sie dramatisch, "gib uns ein Zeichen."
Die Flüssigkeit gluckerte aus der Flasche auf das Moos. Es roch merkwürdig. Der Hund schnupperte und wandte sich ab.
Wenn jetzt nichts passierte, war Fritzi ihren Sieg los. Noch saßen die drei Jungen stumm, gleich würden sie anfangen zu lachen.
Ein Blitz zuckte. Das matte Halbdunkel unter den Nadelbäumen erhellte sich für eine Sekunde wie ein Schlag. Riesige Schatten wuchsen, wo eben keine waren. Es krachte in die Stille wie eine Axt. Ein Rauschen kündigte Regen an.
"Boh. Ej", sagte Tommi.
Fritzi sagte nichts, weil sie sich noch nicht gefasst hatte. Betont gleichgültig ließ sie die ausgeleerte Flasche fallen. Sie verzichtete auf eine abschließende Bemerkung, erlaubte sich nur eine sehr gerade Haltung und ließ das Ereignis ansonsten für sich wirken.
Das tat es. Regenwasser brach aus dem Himmel, verschüttete sich über den Wald, floss in Rinnsalen den Weg entlang und in den Bach, lief über Kindergesichter, in Kragen. In den grünen Farnen dampfte es.
"Is ja geil, Georg, oder was findest Du?" Krücke war verunsichert. Georg hatte doch gesagt, es gäbe keine Geister.
"Die hat nur Glück gehabt", knurrte Georg. "Außerdem finde ich es scheiße, dass es regnet. Ein guter Geist kann das nicht sein."
Glück gehabt zu haben war kein Grund für Fritzi, sich weniger zu freuen, aber sie verzichtete auf einen Streit.
"Lasst uns doch nach Hause gehen, es gibt bestimmt bald Abendessen", schlug sie vor und schulterte ihr Rad.
Als sie aus dem Wald heraustraten, hatte der Regen nachgelassen und tröpfelte nur noch. Die Wiesen kochten und die Wege waren schlammig. Die nassen Dorfdächer glitzerten von fern in der Abendsonne.
Suse hockte, ein gutes Stück entfernt, zwischen den grünen Farnen am Bach. Sie war einfach den Weg weitergelaufen, es ging bergab und wurde immer düsterer. So tief war sie noch nie in den Hexenwald vorgedrungen.
Die Farne standen hoch und waren für ein kleines Mädchen schon Wald genug. Vor ihren Augen rollten sich hellgrüne Spitzen aus dunkelgrünen Spiralen und einzelne Wassertropfen lagen ruhig auf den Fächerblättern. Sie tippte eines an, und der Tropfen kullerte herab. Auf der Erde fand sie ihn nicht wieder. Eine orangerote Nacktschnecke mit schwarzen Fühlern zog eine silberne Linie hinter sich her.
Suse blieb in der Hocke und versuchte, ein Stück näher zum Bach zu rutschen. Der war nicht tief und auch nicht breit. Mit einem Schritt hätte sie darübersteigen können. Sie hielt ihre Hand hinein. Kühl war das Wasser. Mit dem Zeigefinger bohrte sie ein Loch in den Schlamm am Grund. Der Ärmel ihres Kleides wurde nass. Wo sie den Schlamm aufgewühlt hatte, zog nun eine graubraune Spur den Bachlauf hinunter. Aber nicht lange. Das schnell hinabgleitende Wasser glättete den Grund wieder, nur eine kleine Vertiefung war noch zu sehen.
Etwas stieß sanft an ihr Handgelenk, das sie immer noch ins Wasser hielt, den feuchten Ärmel nicht achtend. Es war eine Feder, die auf der Wasseroberfläche schwamm, ganz trocken, nur ein paar glitzernde Tropfen trug sie mit sich. Suse zog sie heraus. Eine große Feder. Am Kiel weiß und nach außen wurde sie grau, mit einer schwarzen Spitze. Eine schöne Feder. Suse streichelte ihr Gesicht damit.
Als sie die Feder in der Hand drehte, sie ganz dicht vor die Augen und in das Licht hielt, schimmerte sie in allen Regenbogenfarben. Woher kamen diese Farben? Sie riss sie an der Seite ganz vorsichtig auseinander. Dann strich sie fest über den Riss und sie fügte sich wieder nahtlos zusammen. Eine Zauberfeder. Wenn sie den Kiel in die Erde steckte - ob er wohl Wurzeln schlug? Ein Federbaum würde zu den Farnen hier gut passen. Die sahen ziemlich ähnlich aus. Der Boden war feucht, und sie müsste nie zum Gießen komme, nur zum Gucken. Ob er wuchs. Und wie hoch er würde. Und ob er blühte. Federblumen. Wie die wohl aussahen?
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