"Scheiße", schallte es durch den Wald.
Fritzi musste vor Lachen das Fahrrad absetzen. Suse grinste im Abseits. Georg schüttelte nur ärgerlich den Kopf.
Er schnitt Krücke das Klagelied ab, das dessen Mund entsteigen wollte: "Halt bloß die Klappe und steh auf. Das ist doch ne Lederhose."
Krückes Gesicht verzog sich jämmerlich. Wenn er doch nach Hause könnte, es quietschte beim Laufen, aber er fand keinen einzigen mitleidigen Blick und so schwieg er.
Hinter dem Bach ragte eine Felswand auf. Georg entdeckte einen schwarzen Spalt. Der Hund war davor stehengeblieben und hatte hineingeschnüffelt. Dann trabte er uninteressiert weiter. Während die anderen dem Bachlauf folgten, blieb Georg ein paar Schritte zurück und äugte in das Dunkel. Der Spalt war gerade groß genug, dass er hineinpasste.
"Wollen wir nicht Verstecken spielen?", rief er den anderen hinterher.
"Langweilig", sagte Fritzi gedehnt. "Außerdem findet Ihr mich mit meinem Rad sofort."
"Das kannst Du stehenlassen, wer soll es denn hier klauen?“, schaltete sich Tommi ein.
"Ich finde es trotzdem langweilig. Man müsste noch eine Schwierigkeit einbauen. Wir sind doch hier im Hexenwald. Wir könnten gleichzeitig Suchen und Verstecken spielen. Jeder muss einen Geist finden und gewonnen hat der, der das beste Versteck hat und den schönsten Geist." Fritzi strahlte.
"Das geht aber nicht in Wirklichkeit", sagte Krücke, obwohl er sich da nicht sicher war.
"Genau", unterstützte ihn Georg. "Geister sind unsichtbar und außerdem gibt es sowieso keine."
"Es kann ja auch einfach nur etwas Besonderes sein," schränkte Fritzi ein. "Ein Geschenk von einem Geist zum Beispiel. Oder einen verwandelten Geist, der aussieht wie ein Stein."
Georg ärgerte sich. Sein Versteck war das Beste, das wusste er ganz genau. Aber woher sollte er einen Geist nehmen?
Tommi wusste schon, was er machte. Er würde sagen, in seinem Hund sei ein Geist, und da sollte mal jemand was anderes behaupten.
Krücke wusste, dass er sich gar nicht ausdenken musste. Auf geheimnisvolle Weise wurde er immer ausgezählt und musste das Suchen übernehmen. Das würde heute auch nicht anders sein. Warum konnte das nicht mal Suse machen?
Fritzi war sich sicher, dass sie mit einem echten Geist zurückkehren würde, der würde sie unsichtbar zaubern und damit hätte sie auch das beste Versteck.
"Okay, lass uns abzählen." Sie stellte ihr Rad an einen Baum. "Ene mene mu, und ab bist Du. Sag mir erst, wie alt Du bist."
Bei jeder Silbe traf ihr Finger die Brust eines Kindes und bei der letzten stieß sie richtig zu, so dass Krücke nach hinten taumelte.
"Immer ich." Die Klage war Formsache. Er stellte sich an einen Baum und lehnte die Stirn gegen die Rinde. "Eins. Zwei. Drei."
Die ersten Zahlwörter brüllte er laut, danach - das wusste er aus Erfahrung - war sowieso niemand mehr da, der seinem Zählen zuhörte, und er stand allein im Wald, die Arme um einen Baum geschlungen. Er hörte dann einfach auf und wartete mit gespitzten Ohren. Doch seine Ehrlosigkeit ging nie so weit, dass er sich umgedreht hätte. Das tat er erst, nachdem er tief Luft geholt hatte und den Stamm hoch in den Himmel brüllte: "Ich komme!"
Danach war alles ruhig im Hexenwald. Krücke redete mit sich selbst. "Ja, dann ma los. Wo sind sie denn? Wo sind sie denn?" Seine ersten Schritte führten ihn ins Dickicht, da hatte er vorhin etwas knistern hören. Er bückte sich und nahm die Arme vor das Gesicht, damit nicht die stacheligen Äste seine Haut zerkratzten.
Tommi hatte sich nur fünf Meter weiter geschlichen und sich mit seinem Hund in eine Vertiefung im Waldboden gehockt, von wo aus er Krücke gut sehen konnte. Er machte es sich richtig gemütlich und drückte dem Hund die Hand auf den Rücken. Der ließ sich fallen und legte seine schwarze Schnauze auf Tommis Bein. Kurz darauf träumten beide den gleichen Traum aus verschiedenen Perspektiven.
Georg war den Weg zurückgelaufen und hatte den Felsspalt gleich wiedergefunden. Er steckte seinen Kopf hinein und fand, dass es muffig roch. Aber es war trocken, und er passte - etwas zusammengekrümmt - genau hinein. Ein kleiner Felsvorsprung stach ihm unangenehm in den Rücken, aber das würde er schon aushalten. Ein Geist, dachte er, woher nehme ich einen Geist? Seine Augen suchten die Wände ab, aber der graue Stein gab keine Idee. Er wollte doch noch mal draußen horchen. Als er den Kopf herausstreckte, die frische Waldluft einatmete, guckte er Krücke genau in die Augen, der eben an ihm vorbei den Weg hinablaufen wollte.
Krücke murmelte: "Wo sind sie? Wo sind sie?" Jetzt bremste er scharf und ein breites Grinsen zog über sein Gesicht. "Da!" Er zeigte mit seinem Finger auf Georgs Kopf, der sich ärgerlich schüttelte, als ob das wehtat.
"Lass das. Du hättest mich nie gefunden. Ich musste nur dieses eine Mal Luft holen. Das war einfach Pech. Dafür verrate ich Dir nichts von dem Geist, den ich gefunden habe." So würdevoll wie möglich kroch er aus dem Spalt und richtete sich auf. Nun stimmten die Größenverhältnisse wieder.
Krücke hüpfte um ihn herum: "Los, erzähl!"
"Kommt gar nicht in Frage. Du musst die anderen suchen, ich gehe zurück zum Fahrrad." Bis dahin würde ihm schon noch was einfallen.
"Ich will mit", sagte Krücke und hielt Georgs linke Hand fest. Das war ein seltener Fehler. Georg hielt eine Menge aus, und Krücke wusste auch ungefähr, wie lange er ihm auf die Nerven gehen konnte. Es gab einen bestimmten Blick, der Krücke warnte, und ihn dazu brachte, umgehend mehrere Meter zwischen Georg und sich zu legen und ihn eine Weile nicht mehr zu beachten. Diesmal hatte er übersehen, dass das Maß schon voll war, als er aufgetaucht war und Georg zufällig aus dem besten Versteck seines Lebens geguckt hatte.
Georg blieb stehen und sah auf seine linke Hand, die von Krückes Fingern weiß umklammert wurde. Dann holte er mit der Rechten aus. Krücke starrte verständnislos auf die Faust, bis sie in seinem Gesicht landete. Er fing hysterisch an zu schreien.
"Halt die Klappe!", brüllte Georg ihn nieder. "Du Quälgeist. Lass mich endlich in Ruhe." Sein Gesicht wurde knallrot.
Krücke sank auf die Knie, hielt sich das rechte Auge und wimmerte: "Was habe ich denn gemacht?"
Fritzi war weit gelaufen. Das beste Versteck wollte sie finden und einen echten Geist. Sie achtete nicht auf die Kratzer an den Händen und die Schramme am Knie. Das Dickicht sah überall gleich aus. Nichts Besonderes zu sehen. Andererseits - wenn es hier etwas Besonderes geben würde, dann würde Krücke genau da suchen, einfallslos wie er war.
Fritzi wurde langsamer. Aber durch das Nadelgehölz lief Krücke bestimmt wie ein Blinder und guckte nicht nach rechts und links. Weil er Fritzi nur ein ausgefallenes Versteck zutraute, nicht aber ein einfallsloses. Sie würde ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen. Schade nur, dass er die Genialität ihrer Überlegungen nicht begreifen würde. Und bei dem Gedanken, einfach zwischen Büschen auf dem Boden zu hocken, wurde ihr selbst langweilig. Wo guckte Krücke niemals hin? Nach oben. Das war es. Sie war doch da vorhin an einem Jägerhochsitz vorbeigekommen. Fritzi änderte die Richtung. Ganz dumpf und fern hörte sie Georg brüllen. Und Krückes wimmernde Stimme. Fritzi grinste.
Der Hochsitz war erreicht. Einige morsche Sprossen in der Holzleiter waren gebrochen, andere würden es beim ersten Schritt darauf tun. Fritzi vermied, auf das mit glitschigem, feuchten Moos überzogene Holz zu treten, schon um keine Spuren zu hinterlassen. Vor dem Hochsitz öffnete sich eine kleine Lichtung. Als Fritzi oben war, entdeckte sie das Bänkchen, aus zwei rohen Latten gezimmert. Sie achtete beim Hinsetzen darauf, nicht mit den rostigen Nägeln in Berührung zu kommen. Sie fühlte sich groß. Höher als die Nadelbaumspitzen. Unangreifbar. Sie hob die Nase in den Wind. Hier oben schien die Sonne. Die anderen waren da unten im dunklen Wald. Sie schlenkerte mit den Füßen und sang. Mit der Hacke stieß sie unter der Bank etwas um. Es klirrte. Fritzi bückte sich. Eine Flasche. Eine volle, durchsichtige Flasche. Klosterfrau Melissengeist. Achtzig-Prozentig. Die kannte sie von der Oma, die rieb sich damit ein.
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