CMF: Sie haben es jetzt schon teilweise beantwortet, aber brauchen wir Richtlinien, um eine solche Balance zwischen Überwachungstechnologie und unseren Freiheitsrechten zu finden? Wäre es hilfreich, wenn wir uns grundsätzlich Gedanken darüber machen?
IP: Ja, aber das ist nichts Neues. Wir haben das Problem der Balance zwischen Freiheit und Sicherheit in vielen Bereichen schon immer. Eine Frage wäre, was wir aus unseren jetzigen Erfahrungen für das allgemeine Problem der Spannung zwischen Freiheit und Sicherheit lernen können. Gehen wir in der Corona-Krise zu weit in Richtung Sicherheit oder nicht? Wenn wir zu weit gegangen sind und wir nachher einen diktatorischen Überwachungsstaat haben, dann ist die Sache in den Brunnen gefallen. So weit muss es aber nicht kommen. Wenn wir behutsam über Methoden wie die Überwachung durch Apps nachdenken und immer im Bewusstsein behalten, dass wir Maßnahmen im Zweifel auch wieder abschaffen können – dafür haben wir entsprechende Mechanismen oder Verfahren –, dann denke ich, dass wir für das Grundproblem „Freiheit/Sicherheit“ aus der Corona-Krise viel lernen können. Ich würde aber nicht sagen, dass wir allgemeine Richtlinien aufstellen, Prinzipien diskutieren oder Ethikräte Gutachten anfertigen lassen müssen, bevor wir überhaupt Maßnahmen gegen das Virus ergreifen. Sonst sind zu viele Leute tot. Vielleicht kann man trotzdem die Prinzipienebene im Kopf behalten und Ethikräte dazu veranlassen, die Praxis kritisch zu betrachten, um eben aus der Erfahrung dieser Praxis die Prinzipien weiterzuentwickeln und Grundsatzüberlegungen dazu anzustellen, wie weit wir in der Einschränkung der Freiheit gehen können. Kurz und knapp: Das Denken über Prinzipien darf nicht den absoluten Vorrang haben und konkrete Maßnahmen ausschließen, die sich prima facie aufdrängen, um Menschenleben zu retten.
CMF: China hat ein QR-Code-basiertes Farbsystem eingeführt. Nach diesem ist es Bürgern nur erlaubt, sich frei zu bewegen, wenn sie einen grünen Code auf ihrem Telefon vorweisen können. Dieser belegt, dass sie in der letzten Zeit keine Berührung mit Covid-19-Infizierten hatten. Können Sie sich ein solches System auch in Europa vorstellen, um die Quarantäne-Maßnahmen zu lockern, oder würden Sie so etwas für unsere westlichen Demokratien ausschließen?
IP: Das Grüne-Punkt-System Chinas klingt erst einmal sehr verführerisch. Es setzt aber eine totale Überwachung voraus, um festzustellen, ob jemand tatsächlich mit Corona-infizierten Leuten in Kontakt kam oder nicht. Das kann man im chinesischen Social-Credit-System vielleicht sicherstellen. Diese Totalüberwachung wollen wir aber nicht. Das chinesische Modell ist daher, meiner Meinung nach, kein gutes Modell. Auf der anderen Seite überlege ich, wie das mit Personen ist, die schon immunisiert sind – zum Beispiel, weil sie das Virus bereits hatten. Sollte man das durch einen grünen Punkt oder Ähnliches kenntlich machen? Man könnte diese Personen dann zum Beispiel in Krankenhäusern oder anderen Diensten besser einsetzen. Darüber sollte man irgendwie nachdenken.
CMF: Das Problem ist, dass man noch nicht weiß, wie lange die Immunität hält.
IP: Das stimmt. Die Corona-Viren mutieren auch. Es könnte sein, dass ich bei der nächsten Welle wieder infiziert werde. Insofern ist das kompliziert.
CMF: Kürzlich hat Deutschland den Hackathon #WirVsVirus organisiert. Dabei ging es um die Frage, wie man Technologie in der jetzigen Krise besser einsetzen kann. Viele der eingereichten Vorschläge hatten zum Ziel, Bürgerinnen und Bürger selbst zu befähigen, die Krise zu bekämpfen. Sind wir in Europa grundsätzlich zu sehr auf den Aspekt der Überwachung fokussiert? Sollten wir lieber den Bürger ermächtigen und zu mehr Verantwortung aufrufen? Oder sehen Sie hier auch das Drohpotenzial, dass Bürger ihre Mitmenschen anzeigen?
IP: Einen solchen Hackathon zu organisieren – sozusagen ein strukturiertes Brainstorming, wie man Technologien nutzen kann – finde ich hervorragend. Ich habe das Gefühl, dass in großen Teilen unserer Bevölkerung eine Menge Eigenverantwortung da ist und man dementsprechend nicht nach einer totalen Überwachung rufen sollte. Wenn wir das Vertrauen in uns selbst, in unsere Eigenverantwortung, verlieren, dann sind wir dem „totalen Staat“ schon sehr nahe. Wir sollten die Selbstverantwortung und den Anspruch, gemeinsam verantwortlich zu sein, fördern und nicht die Erfindung von neuen Technologien als einzige Lösung ansehen. Wir könnten überlegen, welche bei solchen Hackathons entwickelten Ideen uns dabei helfen können, diese Eigenverantwortung besser wahrzunehmen. Dann sehe ich auch kein Drohpotenzial, dass Bürger ihre Mitmenschen anzeigen. In gewisser Weise haben wir das aber schon immer. Wir haben in unserer deutschen Vergangenheit eine reiche Erfahrung mit bösen Dingen zwischen Menschen, und diese Erfahrung dürfen wir nicht vergessen. Deswegen sollten wir auch Technologien, die sozusagen ein Anzeigen anderer bei irgendwelchen Stellen fördern, nicht in Umlauf bringen. Ich verstehe Ihre Sorge und denke mir auch: Wie ist das im Park, wenn ich zum Beispiel einer Gruppe von jungen Menschen begegne, die ganz eng zusammen auf ihrer Decke sitzen und offensichtlich keine Familie sind – wie verhalte ich mich da? Das hängt ein Stück weit von der Grundeinstellung jedes Menschen ab. Wie weit reicht meine Achtung für die Freiheit und Selbstentfaltung anderer? Ich würde sagen, wenn wir allgemeine Regeln haben, sollte sich jeder erst einmal tunlichst daran halten. Sonst werden die Regeln und Sanktionen weiter verschärft. Jeder ist mitverantwortlich, dass wir trotz dieser Krise ein relativ freiheitliches System beibehalten können.
CMF: Das führt uns zur abschließenden Frage. Wie wird sich unsere Gesellschaft durch die Krise verändern? Was ist Ihre größte Befürchtung? Was ist Ihre größte Hoffnung?
IP: Meine größte Hoffnung ist natürlich, dass wir die Kraft haben, die jetzigen Einschränkungen, ohne zu meckern und ohne wirtschaftlich in die Knie zu gehen, einzuhalten. Ich hoffe, dass wir eigenverantwortlich lernen, wieder ein Allgemeininteresse zu verstehen, nämlich dass sich dieses Virus nicht weiterverbreitet und die Zahl der Toten nicht ins Unermessliche steigt. Je mehr sich alle an die Regeln halten, desto schneller sind wir über den Berg. Meine größte Befürchtung ist, dass die einen oder anderen durchdrehen. Das sage ich so salopp. Das betrifft zum Beispiel häusliche Gewalt als Folge des Eingesperrtseins. Ich wäre hier allerdings vorsichtig, da manche das nachher als eine Rechtfertigung von Gewalt ansehen werden. Die zweite Befürchtung ist, dass die Kontaktverbote nicht ernst genug genommen werden. Die Folge wäre, dass die Intensivstationen überlastet werden und wir zur Triage kommen. Und die Triage tut weh. Wenn jemand nicht behandelt werden kann, weil kein Platz mehr ist, schafft das unglaubliche Brüche. Eine weitere Folge könnte eine signifikante Verschärfung der Gesetze sein. Das halte ich für vermeidbar, aber es könnte dazu kommen, wenn Menschen die Regelungen nicht mehr einhalten wollen. Ich fürchte also, dass die Solidarität und das Gefühl der Gemeinsamkeit irgendwann schwach werden. Das könnte die Gesellschaft insgesamt zerstören, auch für die Zeit nach der Krise. Im schlimmsten Fall werden wir dann eine andere Gesellschaft sein, in der wir unsere bekannten Prinzipien und Lebensformen nicht mehr wiedererkennen. Das gilt natürlich nicht nur für unsere Gesellschaft in Deutschland, sondern auch für Europa und die Welt. Wir in Deutschland werden auch nicht glücklich sein, wenn es nur uns gut geht und die anderen Teile der Welt sehr leiden müssen. Deswegen ist auch hier Solidarität gefragt. Das ist aber eine andere Dimension, die ich hier nicht vertiefen möchte.

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