Mooreichen 1892 – Johann
Johann fand Freude an seiner neuen Arbeit. Mit der Zeit entwickelte er sich, wurde kräftiger, sodass er nicht mehr mit dem Mörtelkarren umfiel. Die Meisterin steckte dem Jungen immer wieder eine Extraration zu, verwöhnte ihn wie eine Mutter.
«Du bist fast wie ein Sohn für mich, leider haben wir nur zwei Mädchen.»
Seine Probezeit bis Ende Januar zog sich lange hin. Auf den Baustellen ruhte wegen des frühen Wintereinbruchs die Arbeit. Er pflegte mit einem alten Handlanger im Lager die Werkzeuge und bereitete für das kommende Frühjahr die verschiedensten Gerätschaften vor. Langweilige Tätigkeiten, da war Schneeräumen und Stall ausmisten besser.
Wenigsten hatte er jetzt Zeit zum Lesen. Bereitwillig hatte der Pfarrer ihm gestattet, Lesestoff aus seiner Bibliothek auszuleihen. Ab und zu diskutierten sie über die Bücher, wenn Johann sie zurückbrachte. Dabei lebte er auf, wissbegierig sog er alles in sich hinein.
Zu Lichtmess 1893 startete seine Lehrzeit, im Beisein der Altgesellen, dem Zunftmeister und der Frau Meisterin schwor er feierlich seinem Meister den Gehorsam und den treulichen Dienst. Das wurde mit einem kleinen Umtrunk besiegelt.
Nach sechs Jahren war die Lehrzeit vorbei, er musste länger arbeiten, weil der Baron verstorben war und das Lehrgeld im fünften Jahr nicht mehr bezahlt hatte. Großzügig war Meister Kramer stattdessen mit einer Verlängerung der Lehre einverstanden gewesen. Endlich geschafft, Johann war zufrieden, hatte sich herausgearbeitet aus dem unteren Knechtstand.
Sein Gesellenstück fertigte der junge Mann auf der Baustelle der Synagoge von Oppeln. Seit Jahren baute er mit am neuen Gotteshaus, das im maurischen Stil, nach Plänen des Breslauer Architekten Felix Henry, errichtet wurde. Nun stellten sie im Frühjahr 1899 mit dem Abschluss der Einfriedungen die Außenanlagen fertig. Johann war stolz, wenn die Besucher durch seine Toranlage , zwei Pfeiler mit einem Hufeisenbogen[Fußnote 10] , den Garten der Synagoge betraten.
Er hatte die Gesellenprüfung mit Bravour bestanden.
Feierlich wurde er etwa zwei Wochen nach seinem achtzehnten Geburtstag in die Gesellenbruderschaft aufgenommen. Seit der Freisprechung gehörte er zu den Rechtschaffenden Fremden der freien Maurer- und Steinmetzgesellen. Eine der führenden Bruderschaften in Breslau.
Aber es änderte sich nichts, die Arbeit blieb die Gleiche, nur jetzt bekam er gerechten Lohn dafür.
Der einst schmächtige Bücherwurm hatte sich in einen großen, kräftigen jungen Burschen verwandelt. Unter dem schwarzen Hut mit der breiten Krempe, der mühsam die wild abstehenden braunen Locken bändigte, spitzten voll Entdeckerfreude grüne Augen hervor. Seine Kleidung, die Kluft, bestand aus einer Schlaghose aus grobem hellgrauem Cord. Über der Staude - das weiße Hemd - trug er eine Weste mit acht sowie eine Jacke mit sechs goldenen Knöpfen.
Bei speziellen Anlässen band er dazu die schwarze Ehrbarkeit um, eine Art Krawatte mit der Handwerksnadel.
Am 18. Mai 1899, einem Sonntag, schnürte er wieder einmal sein Bündel, aber dieses Mal zog es ihn in die weite Welt hinaus.
«Mach mir keine Schande, lerne fleißig und bring ein paar neue Ideen mit», verabschiedete ihn der Meister mit einem kräftigen Handschlag.
Die Meisterin umarmte ihn. «Wohin wanderst du?»
«Zuerst mit Frieder ins Böhmische, einem Junggesellen wie ich, aus Oppeln.»
«Das ist nützlich, dort lernst du, wie man die Kappen mauert.» Aufmunternd nickte der Meister.
Nach einem feuchtfröhlichen Abschiedsabend mit der Bruderschaft brach er, gemeinsam mit weiteren drei Gesellen, von Oppeln südwärts, Richtung Prag auf.
Der Schacht[Fußnote 11] begleitete die ausziehende Schar bis vor die Tore der Stadt im Spinnermarsch , dabei marschierte einer hinter dem anderen her. Der Erste, der Leithammel, trug eine Flasche Köm , meist ein klarer Obstschnaps, über der Schulter. Während des Marsches wurde kräftig geschallert[Fußnote 12] und in den vielen Pausen ein Schluck aus der Kömbuddel gezwitschert.
Zum Abschied winkten sie den Kameraden zu und schritten ihrem unbekannten Ziel in Böhmen entgegen.
Sie hatten Glück, ein zwar etwas mürrischer Bauer gestattete ihnen, ein langes Stück des Weges auf seinem Pferdekarren mitzufahren. Fremden Gesellen, das heißt, Handwerker die sich auf der Wanderschaft, der Walz, befanden, war dies nur zu Fuß erlaubt, außer man fand eine kostenlose Mitfahrgelegenheit. Bereits nach einigen Tagen erreichten sie Prag.
Allerdings gestaltete sich das Zureisen, so nannte man das Ankommen in einer fremden Stadt, schwierig. Bei der Handwerkskammer bekam er seinen Stempel ins Reisebuch und einen Zehnpfennig . Das Vorsprechen bei einigen Meistern war leider erfolglos, erfreulicherweise endete das Gespräch jedes Mal mit einer Einladung zum Essen.
Sie wurden zünftig in der überfüllten Herberge empfangen. Prag gehörte zu den beliebtesten Orten für die wanderten Gesellen.
Zwei Tage später verließ Johann alleine die Goldene Stadt an der Moldau. Weiter nach Westen – Pilsen war sein neues Ziel.
In einem kleinen Vorort der bekannten Bierstadt unterbrach er die Tippelei zum Schallmachen[Fußnote 13] . Er hatte Glück, der Krauter gab ihm Arbeit und Logis.
Ende Oktober kündigte sich der Winter bereits mit Eis und Schnee an.
«Wird Zeit für den Süden, Johann komm mit», ermunterte ihn einer der Burschen in der Herberge. «Der Hannes hat einen Meister kennengelernt, der nach Bozen reist, um dort eine Backsteinkirche zu errichten. Der sucht noch Fremde Gesellen , die bereit sind, mit ihm über den Brenner zu ziehen. Er stellt seine Truppe in Amberg zusammen.»
«Ich weiß nicht? Jetzt kommt die Winterpause, mein Meister hat mir einen Platz hinterm Ofen versprochen», brummelte Johann unschlüssig.
«Aber da lernst und verdienst du nichts. Wenn wir uns beeilen, erreichen wir ihn rechtzeitig vor der Abfahrt nächste Woche in Amberg, das ist in der Oberpfalz.»
Bertram der Kamerad aus Pommern hielt ihm die Hand hin.
«Schlag ein - die Sache gilt.»
«Also - top, top», antwortete Johann, nach kurzem zögern und schlug zweimal ein.
Am nächsten Tag packte er seinen Charlottenburger , auch Charlie oder Berliner genannt, ein großes buntes Tuch, in das er sein Hab und Gut für die Reise einwickelte. Durch die Mitte des kunstvoll geschnürten Bündels schob er seine Wasserwaage, befestigte an deren Ende die Trageriemen und hängte sich dies um die Schulter. Er nahm den Stenz , einen schweren Wanderstock, den er sich selbst aus einem gedrehten Eichenknüppel geschnitzt hatte, und setzte seine Walz fröhlich pfeifend mit dem neuen Begleiter fort.
Sie hatten Glück, bei einem Händler, der auf dem Weg nach Nürnberg war, fanden sie eine Mitfahrgelegenheit und waren zwei Tage vor der Zeit in Amberg.
Der Marsch über die Berge gestaltete sich schwierig. Es war eigentlich bereits zu spät im Jahr für eine gefahrlose Überquerung der Alpen. Ständig Regen und Schneetreiben, Johann hatte keinen Blick für die herrliche Landschaft, die hohen Berge und tiefen Täler. Nur mit wenig Gepäck, Mulis und erfahrenen Bergführern kam die zwölfköpfige Maurerkolonne kurz vor dem ersten Advent bei angenehmen Plusgraden in Bozen an. Zwei der Männer, mit Erfrierungen an den Füßen, lieferten sie zuerst einmal im Spital ab. Für alle anderen hieß es jetzt, sich in den Baubaracken der Dombauhütte für die nächste Zeit gemütlich einrichten.
«Der Meister hat uns einen Kirchenbau versprochen, aber es gibt nur Instandsetzungsarbeiten», beschwerte sich Bertram bei Johann.
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