Schmerzhaft wurde mir bewusst, dass mein eigener Körper noch nie einen Mann in sich aufgenommen hatte. Augustine war theoretisch noch Jungfrau! Bei diesem Gedanken schüttelte ich mich und dabei stieß ich versehentlich die Tasse heißer Schokolade, die vor mir stand, um. Die braune Flüssigkeit kam unaufhörlich und in einer Geschwindigkeit, die ich unterschätzt hatte, auf mich zu. Zu spät sprang ich vom Stuhl auf, und der Kakao ergoss sich auf meine weiße Leinenhose. Ich fluchte und der Kellner, der das Unglück aus der Ferne beobachtet hatte, kam mit einem Tuch auf mich zugeeilt. Unglücklich sah ich an mir hinunter. Die Hose sah fürchterlich aus. Der Kellner war sehr bemüht, wischte sofort den Tisch ab und sah etwas hilflos an mir herab.
„Das tut mir leid, wegen Ihrer Hose“, sagte er entschuldigend. Etwas gereizt antwortete ich: „Sie können ja nichts dafür. Ich bin einfach zu blöd zum Kakaotrinken!“
Eine Weile sahen wir uns an. Er war etwa Anfang vierzig, hatte kurzes, dunkles Haar und lustige Augen. Ich war schon einige Male hier gewesen, er war mir aber nie aufgefallen. „Kann ich noch etwas für Sie tun? Oder möchten Sie etwa noch einen Kakao?“, fragte er in scherzendem Ton und ich merkte, dass er mich damit einfach nur aufheitern wollte.
„Nein danke“, sagte ich höflich, „ich glaube es ist besser, ich bezahle jetzt.“ Er nickte und eilte mit dem schmutzigen Lappen davon, um ein paar Minuten später mit der Rechnung wieder zu erscheinen. „Die Torte dürfen Sie bezahlen, der Kakao geht auf mich“, sagte er und wollte nur zwei Euro achtzig von mir.
Es war mir peinlich, aber er bestand darauf. „Dafür dürfen Sie uns gerne wieder einmal beehren“, flirtete er ungeniert mit mir, beugte sich dann etwas herab und sagte in verschwörerischem Ton: „Die neue Herbstfarbe wird heuer Kakaobraun. Vielleicht wäre eine Hose in dieser Farbe für einen Besuch bei uns angebracht!“ Er zwinkerte erneut.
Eigentlich fand ich ihn frech, aber ich musste dann trotzdem lachen, da er offensichtlich sehr bemüht war, mich aufzuheitern. Aber eigentlich hatte ich keine Aufmunterung nötig, ich schwebte ja ohnehin auf Wolke sieben, zumindest wenn ich die Gedanken ausklammerte, dass ich nicht die Person war, die ich zu sein mir im Augenblick wünschte.
Ich verließ also das Café und stand mit der auffällig beschmutzen Hose auf dem Gehsteig in der gleißenden Sonne. Dominik war bestimmt gerade beim Kaffeetrinken nach einem reichlichen Sonntagsschmaus mit Sabina und seinen Eltern. Ein kurzer Anflug von schlechtem Gewissen meiner Freundin gegenüber zerstörte für ein paar Sekunden meine Hochstimmung. Bei dem Gedanken an Dominik bekam ich sofort wieder Schmetterlinge im Bauch. Zu mir nach Hause war es genauso weit, wie zu Melanies Wohnung und so überkam mich der Wunsch, einmal nach meinem „Leihkörper“ zu sehen. Der Gedanke, dass ich sie so nannte, erschreckte mich und ich flüsterte eine imaginäre Entschuldigung.
Auf dem Weg zu ihrer Wohnung wurde ich immer nervöser. Ich kannte sie ja kaum, und was sollte ich sagen, wenn ich sie sah? Es würde mir schon etwas einfallen, sagte ich mir, als ich wieder vor der großen, knarrenden Eingangstür stand und läutete. Der Summer ging nach einer Weile und oben stand zu meinem Erstaunen die Wohnungstür bereits offen. Ich trat ein. Melanie lag auf der Couch. Sie erschrak heftig, als sie mich sah.
„Ich dachte Pamela hätte geläutet“, stammelte sie. „Die Tür war offen, also bin ich einfach hereingekommen“, sagte ich entschuldigend und trat einen Schritt näher. Sie sah mich verwirrt an. Ihre Haare waren zerzaust und sie hockte in der Ecke der Couch mit angezogenen Beinen, die sie mit den Armen umschlungen hatte. Als sie nichts sagte, plauderte ich einfach weiter.
„Ich war gerade in der Nähe, habe mir in einem Café einen Kakao über die Hose geschüttet und weil ich weiß, wo du wohnst, dachte ich, ich frag dich einfach mal, wie es dir so geht.“ Als sie noch immer nichts sagte, fuhr ich fort: „Naja, vielleicht könntest du mir auch eine Hose leihen, wenn ich schon da bin. Wir sind doch Freundinnen, oder?“ Meine Stimme brach, bei dem letzten Satz.
„Natürlich kann ich dir eine Hose leihen“, sagte sie leise und umklammerte ihre Beine noch fester. Ich ging langsam auf sie zu und ließ mich neben ihr auf der Couch nieder. „Geht es dir nicht gut?“, fragte ich, nun ehrlich besorgt, denn sie verhielt sich wirklich eigenartig. Melanie sah mich mit großen Augen an. Ich bekam beinahe Angst.
„Ich weiß es nicht“, flüsterte sie und begann leicht nach vorn und hinten zu wippen. „Willst du mit mir reden?“, fragte ich ganz behutsam und strich ihr eine Strähne – meine geliebte Strähne – aus dem Gesicht. „Ich bin heute Mittag aufgewacht. Meine Wohnung ist unordentlich, mein Bett zerwühlt. Ich, ich kann mich an gestern nicht mehr erinnern. Irgendetwas ist passiert und ich weiß nicht was. Das macht mich noch verrückt“, sagte sie und ihre wunderschönen Augen füllten sich mit Tränen.
„Melanie, Melanie! Hast du gestern wieder über den Durst getrunken?“, fragte ich mit erhobenem Finger und versuchte so unbekümmert wie möglich zu wirken. „Nein!“, jetzt heulte sie erst richtig los, „ich habe gestern nichts getrunken und ich war, glaube ich auch nicht weg. Ich weiß es einfach nicht mehr.“
Melanie ließ sich an meine Schulter fallen und fing hemmungslos zu weinen an. Meine Gedanken rasten. Ich musste in Zukunft vorsichtiger sein. Vielleicht wäre es besser, sich mit Dominik nur in der Nacht zu treffen und dann auf neutralem Boden. Nicht mehr in Melanies Wohnung und nicht mehr so lange. Ich durfte einfach nichts riskieren. Mir fiel keine weitere Erklärung zu ihrem Zustand ein, außer, dass sie vielleicht am Vorabend Drogen genommen hätte, was sie unter Tränen aber vehement abstritt. Sie hätte noch nie Drogen genommen und würde das auch niemals tun. Auf die Idee, dass ihr jemand etwas ins Glas gegeben hätte, kam sie auch selbst. Aber wo war sie gewesen? Auf meinen Vorschlag, Pamela anzurufen, reagierte sie sauer.
„Aber vielleicht kann sie dir weiterhelfen?“ Melanie zuckte die Schultern und blieb an mich gekuschelt sitzen. „Danke, dass du gekommen bist, jetzt fühle ich mich wieder etwas wohler“, flüsterte sie an meiner Schulter und wischte die Tränen in meine Bluse. Ich hatte schon andere Körperflüssigkeiten von ihr an mir, dachte ich und grinste in mich hinein. Mitleid und Schuldbewusstsein wechselten sich ab. Zwischendurch spürte ich ein Ziehen in meinem Unterleib und unvermittelt, als hätte es auch Melanie gespürt richtete sie sich auf, sah mich an und fragte: „Und weißt du, was sehr seltsam ist?“ Ich schüttelte den Kopf. „Mein Körper schmerzt so sehr, alles tut weh und ich weiß nicht warum. Ich kann mir das nicht erklären. Meinst du, ich werde verrückt?“, fragte sie und sah mich mit großen unschuldigen Augen an. „Nein, sicher nicht!“, versuchte ich sie zu beruhigen und nahm ihre Hand. „Vielleicht hattest du einfach einen schlechten Traum, oder du bekommst eine Grippe. Möglicherweise hattest du Fieber in der Nacht. Es wird schon nicht so schlimm sein.“ Melanie sah mich etwas beruhigt an. „Machen wir uns einen Tee, dann sieht die Welt schon wieder ganz anders aus“, lächelte ich sie an und sie lächelte zurück. Dieses verdammt süße Lächeln, um das ich sie so sehr beneidete.
In der Küche fand ich mich mittlerweile gut zurecht. Pamela rief zweimal an, während wir auf der Couch plauderten, und wurde von Melanie jedes Mal auf „lautlos“ gedrückt. Wir tranken Tee und ich probierte, sie zum Lachen zu bringen, was mir auch ansatzweise gelang. Nach etwa einer Stunde, und in dem Bewusstsein, dass ihr Gemütszustand wieder stabil war, brach ich, in einer sehr knapp sitzenden Jeans von Melanie, wieder auf. Im Treppenhaus traf ich auf Pamela, die gerade die letzten Stufen hinaufeilte.
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