Es war herrlich!
Ich war wohl etwas eingenickt und erwachte abrupt, als ich einen stechenden Schmerz am linken Knöchel fühlte. Ein „Ah!“, entfuhr mir und ich griff mir an das Fußgelenk. „Was hast du?“, fragte Dominik und küsste meine Stirn. „Nichts! Das Bein ist wohl eingeschlafen“, erwiderte ich und verließ rasch das Bett. Dominik sah mir fragend nach. Ich humpelte panisch ins Vorzimmer. Die fremden Schuhe konnte ich nach der Transcorporation nur ein paar Stunden ausziehen, ohne mich zurückzuverwandeln. Ich hatte einfach die Zeit übersehen. Entsetzt über meine Achtlosigkeit suchte ich die High Heels und fand sie endlich im Badezimmer. Der Schmerz war fast unerträglich und ließ erst wieder nach, als ich in beiden Schuhen stand. Erleichtert seufzte ich und vergrub mein Gesicht in beiden Händen. Was tat ich da bloß?
Das war nicht gut! Das war ganz und gar nicht gut!
Leise öffnete Dominik die Tür. Ich hatte ihn gar nicht kommen gehört und saß wie ein Häufchen Elend auf dem Badewannenrand, noch immer mein Gesicht in den Händen vergraben. „Was machst du denn da?“, schreckte mich eine zärtliche Bassstimme aus meinen trüben Gedanken. „Gar nichts“, war alles, was mir einfiel. „Hast du noch Schmerzen?“, fragte er mitfühlend und sein Blick fiel auf meine Schuhe. „Mit diesen Dingern werden deine Füße bestimmt nicht besser“, scherzte er, beugte sich zu mir herab und umarmte mich. Gut, nun konnte ich es wieder riskieren, die Schuhe eine Weile auszuziehen. „Hast du nicht bequemere Schuhe? Mit diesen High Heels machst du dir nur die Füße kaputt“, meinte er und strich eine Haarsträhne aus meinem Gesicht. Ich riskierte einen Blick in den Spiegel. Mein Gott, war ich schön! Ich liebte Melanies Gesicht. Kein Wunder, dass dieser Typ darauf abfuhr! Meine Sorge galt nun Dominiks Frage. Was, wenn ich andere Schuhe von Melanie anzog? Würde das die Transcorporation irgendwie beeinflussen? Oder müsste ich bei demselben Paar Schuhen bleiben, mit denen sie sich vollzogen hatte?
Ich war ratlos. Sollte ich es riskieren?
Während ich noch weiter grübelte und meine Waden massierte, sah sich Dominik im Bad um. „Kann ich bitte ein Badetuch haben? Ich möchte gerne duschen“, er legte seine Lippen an mein Ohr und fügt noch hinzu: „oder lassen wir uns ein Bad ein?“ Sein Mund berührte die kleine Halbinsel, die den Gehörgang zum Teil verdeckte und nach unten mit dem Ohrläppchen verschmolz. Ich zitterte, und ein Stich im Unterleib war schneller als ein „Ja“, das meine Lippen fast lautlos formten.
Badetücher, Badetücher!
Wo zum Teufel konnte Melanie diese deponiert haben?
Im Badzimmer gab es keinen Platz dafür. Vermutlich im Schlafzimmer, wo sonst? Etwas nervös, von Dominiks Blicken gefolgt, öffnete ich den großen Schlafzimmer-Einbauschrank. Nichts! Nur T-Shirts, Unterwäsche, Pyjamas, Pullover und Bettzeug in den Fächern. Blusen, Hosen und Jacken waren fein säuberlich aufgehängt. Ich öffnete eine weitere Tür, in denen sich anderer Alltagskram befand. Verflixt! Auch die dritte Schranktür brachte mir kein Glück. Dominik stand lässig am Türstock gelehnt und sah mir neugierig zu. „Hast du etwa vergessen, wo du deine Handtücher hast?“, fragte er und seine Stimme war eine Mischung aus Belustigung und Sorge. Ich wurde noch nervöser.
„Natürlich nicht“, versuchte ich zu lächeln, „wollte nur frische Unterwäsche holen“ und zog triumphierend einen BH und das dazu passende Höschen aus der eben geöffneten Schublade. „Du kannst inzwischen die Badewanne einlaufen lassen“, fiel mir zu meiner Rettung ein. Dominik nickte, machte kehrt und schlenderte in Richtung Badezimmer. Fieberhaft durchsuchte ich zuerst im Wohnzimmer alle Kästchen, ehe ich im Vorraum neben der Garderobe fündig wurde. Erleichtert nahm ich zwei rosafarbene Badetücher heraus und wollte mich gerade ins Bad begeben, als mich die Türglocke zu einer Salzsäule erstarren ließ.
Wer um alles in der Welt wollte jetzt zu Melanie! Der Schweiß trat auf meine Stirn. Ich schlich zur Tür und schaute durch den Spion. Pamela! Ich hatte so etwas befürchtet. Mein Gehirn arbeitete fieberhaft, ohne einen richtigen Gedanken zu fassen. Es vergingen einige Sekunden, ehe es zum zweiten Mal läutete. Gleichzeitig klopfte sie an die Tür und rief:
„Mela! Bitte mach auf, ich muss mit dir reden!“
Mein Herz, oder besser gesagt, das von Melanie raste. Sie läutete abermals und ich stand noch immer erstarrt mit den Badetüchern im Arm vor der Tür und konnte mich nicht rühren. „Melanie?“, ertönte Dominiks Stimme aus dem Bad und ich hoffte inständig, dass man das nicht durch die dicke Wohnungstür gehört hatte. Wieder läutete sie und rief: „Ich weiß, dass du da bist, bitte mach auf!“ Endlich konnte ich mich bewegen und schlich leise ins Bad. Beim Eintreten legte ich einen Finger auf die Lippen und versuchte so natürlich wie möglich zu wirken. „Ich möchte heute nicht gestört werden“, raunte ich und sah an Dominiks Körper herab, bis zu der Stelle, die mir den Atem nahm. Schnell war ich aus meiner spärlichen Kleidung geschlüpft und stieg zu ihm in die Wanne, wo er mich an der Taille nahm, und zärtlich, aber bestimmt zu sich hinzog. Es läutete noch zweimal an der Eingangstür, dann hatte Pamela offensichtlich aufgegeben. Vorerst jedenfalls, dachte ich und verschmolz mit meinem Liebsten.
Die Magie der Transcorporation
Bei meinem Abenteuer mit Melanies Körper hatte ich mir so einiges nicht vorher überlegt. Aber ich merkte, dass es vieles zu lernen gab. Zum Beispiel wusste ich jetzt, dass ich ein paar Stunden aus den Schuhen schlüpfen konnte, ohne mich zurückzuverwandeln. Andererseits merkte ich, dass, wenn ich die Verwandlung wünschte, ich sofort transcorporieren konnte, sobald ich die Schuhe an- oder auszog. Das gab mir einen sicheren Spielraum, auf den ich mich verlassen konnte. Den Körper eines anderen Menschen zu besitzen, war allerdings nicht das Gleiche, wie in das Leben des anderen zu schlüpfen. Es war nur der Körper, der anders war. Mein ICH war immer dasselbe. Und ich war ahnungslos über die Person, in die ich eintrat. Ihre Lebensweise, ihre Denkart, ihre Vorlieben und ihre Freunde waren für mich ein Buch, indem ich nichts lesen konnte. Das machte die Sache mit Dominik nicht leichter. Wie lange würde es dauern, dass er merkte, dass irgendetwas mit dieser Melanie nicht stimmte?
Ich, Augustine in Augustines Körper, nahm aus einer großen Tasse einen Schluck heißer Schokolade. Mein Blick fiel auf die Fensterscheibe, in der sich mein Gesicht vage spiegelte. Ich konnte nur meine Umrisse sehen, keine Augen, keine Nase, keinen Mund. Aber das war Augustine, die mich von der gegenüberliegenden Glasscheibe mit leerem Gesicht anblickte. Ich stellte die Tasse zurück auf den Tisch und blickte mich in dem kleinen Café um. Manche Leute unterhielten sich lachend, einige lasen Zeitung, andere wiederum telefonierten oder beschäftigten sich mit ihren Smartphones. Es war viel los an diesem Sonntagnachmittag.
„Melanie“ und Dominik hatten sich zu Mittag wieder getrennt, da Dominik seiner Mutter versprochen hatte, zum gemeinsamen Sonntagsmittagessen zu erscheinen. Hätte er vorher gewusst, welch aufregendes Wochenende er erleben würde, wäre er hungrig bis zum Montagmorgen geblieben. Wir hatten uns küssend, streichelnd, seufzend voneinander getrennt. Immer wieder zog er mich zu sich heran, ließ mich wieder los, sagte: „Na dann…“, nahm mich noch einmal in den Arm, dann wieder und wieder. Die Trennung fiel uns unendlich schwer. Er ging dann doch, ließ mich los und sagte:
“Ich ruf dich an, Baby!“ Coolness stand ihm aber nicht und er hauchte noch ein: „Ich vermisse dich jetzt schon!“
Ich saß nun im Café und war hin- und hergerissen von meiner Liebe zu diesem Mann, meinem schlechten Gewissen gegenüber Melanie und meinem Triumph über diese Gabe, der ich einen wunderschönen Tag zu verdanken hatte. Noch nie in meinem Leben hatte ich so viel Sex mit einem Mann. Gut, in verschiedenen Körpern hatte ich guten, normalen Durchschnittssex, bis hin zu genialen One-Night-Stands. Manchmal war es aber auch vorgekommen, dass ich von Abscheu geplagt aus einem meiner gestohlenen Körper schlüpfte. Gewöhnlich ertränkte ich solche Abenteuer in viel Alkohol und redete mir ein, dass es belanglos sei, weil ich ja meinen eigenen Körper nicht beschmutzt hätte. Die Schuhe landeten in einem beschrifteten Karton im Keller. Nach ein paar Tagen waren solche Ereignisse erfolgreich aus meinen Gedanken verbannt.
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