Er dachte an seine Großeltern. Sein Großvater, der als Chefarzt in einer Klinik gearbeitet hatte, die zu Zeiten der glorreichen DDR einem Bergbau in der Lausitz angeschlossen war, hatte ihn wie einen leiblichen Sohn aufgezogen, nachdem sich seine Mutter von seinem Erzeuger nach nur zweijähriger Gemeinsamkeit trennte.
Es heißt oft, wer eine solche Familie hat, braucht keine Feinde . Bei ihm war das anders. Die Familie war es, die ihn immer wieder auffing, wenn etwas schief lief. Und schief lief bei ihm dauernd etwas. Irgendwann hatte selbst sein ihm wirklich bisher alles verzeihender Großvater erkannt, dass da etwas zwischen Faulheit und mangelndem Selbstbewusstsein angesiedelt war, das seinen Enkel in immer ausweglosere Situationen brachte. Als Kardiologe konnte er sich anfangs keinen Reim darauf machen. Später vermutete er aber, dass Christoph unter psychischen Störungen litt. Und die Einschätzung von Christophs Onkel, der eine große Landpraxis für Allgemeinmedizin in Mecklenburg-Vorpommern betrieb, würde ihn später dazu bringen, sich in eine psychiatrische Behandlung zu begeben, die ihn weitgehend wieder auf die Reihe bringen würde. Aber bis dahin war es noch ein langer Weg.
Dann kam ihm seine Mutter in den Sinn. Als Kind hatte er sie geradezu abgöttisch geliebt. Sie war ihm Mutter und Vater zugleich. Alles, was er besaß, hatte sie ihm geschenkt, vor allem aber Liebe. Wie, so fragte er sich, hätte sie reagiert, wenn Adam Silarski ihr seinen Tod hätte vermelden müssen?
*
Am Tag darauf meldete sich Silarski noch einmal. »Die gefallenen Kameraden, die nach Deutschland überführt werden sollen, stammen aus Thüringen, Brandenburg und, wie Jerôme, aus Sachsen. Neben der US-Armee nutzt auch die Bundeswehr den Flughafen Leipzig/Halle als Drehkreuz für regelmäßige Militärtransporte. Es gibt in Leipzig eine Aktionsgemeinschaft Flughafen – NATO-frei . Ruf dort an und frage, ob man weiß, dass diese Maschine in Leipzig abgefertigt wird.«
Silarski nannte ihm noch eine Telefonnummer, die Christoph Senz schnell notierte. Dann brach die Verbindung ab. Nur das Rauschen aus dem unendlichen Weltraum war noch vernehmbar.
Senz wählte die Leipziger Nummer.
»Aktionsgemeinschaft Flughafen – NATO-frei, guten Tag. Was können wir für Sie tun?«
Christoph Senz schilderte den Fall der Rückführung seiner toten Kameraden aus Afghanistan und den Verdacht, dass die Särge möglicherweise in Leipzig ausgeladen werden könnten.
»Wir beobachten diese Flüge bereits seit Jahren. Jeden Mittwoch gegen 19:00 Uhr landet ein Airbus der Luftwaffe mit Soldaten an Bord, die in Afghanistan im Einsatz waren. Meist folgt auch eine Transall-Maschine, die offenbar zum Transport von Ausrüstung genutzt wird. Da wir keine Auskunftszeiten von offizieller Seite bekommen, haben wir die Presse eingeschaltet. Ein Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums bestätigte diese Flüge. Es hieß, sie dienten überwiegend dem Transport von Material und Soldaten sowie der Ausbildung von Flugzeug-Crews. Mehr war nicht zu erfahren. Aber uns reicht das schon, um dagegen zu protestieren.«
»Proteste?« Christoph Senz lachte heiser auf. »Bringt denn das überhaupt etwas?«
»Na ja, wir haben prominente Unterstützer. Der Luftfahrtrechtler Giemulla wertete in einem Bericht die auf Dauer ausgerichtete militärische Nutzung als eklatanten Verstoß gegen bestehendes Recht , wonach nur einzelne militärische Flüge möglich seien.«
»Aber die Flüge gehen weiter, oder?«
»Der FDP-Wirtschaftsminister sagte gegenüber dem Magazin, er habe keine Bedenken gegen die Praxis der Bundeswehr.«
»Wissen Sie etwas darüber, ob die Maschine mit den Kameraden in Leipzig ankommt?«, unterbrach Senz den Redefluss des Mannes.
»Nein. Das wissen wir nicht. Jedenfalls noch nicht. Ich könnte Sie aber verständigen, wenn wir eine solche Information bekommen.«
Jerôme
Die Gebäude der Hans-Joachim-von-Zieten-Kaserne lagen im kleinen Brandenburger Ort Beelitz und waren, wie alle Kasernen dieser Welt, mittels eines ausgeklügelten Zaunsystems von der Außenwelt abgeschottet. Zumal in dieser waldreichen Gegend, in der ein Mensch in den angrenzenden Gehölzen mühelos verschwinden konnte, wenn er es darauf anlegte, sich unbemerkt von der Truppe zu entfernen.
War bei den Rekruten der Name Beelitz unverbrüchlich mit dem Platz ihrer militärischen Ausbildung oder der Tätigkeit als fertiger Rekrut beim Logistikbataillon 172 verbunden, so gab es eine weitere Institution, die über die Grenzen hinaus bei vielen Menschen in unterschiedlichster Erinnerung verblieben ist: die legendären Heilstätten Beelitz; in segensreicher bei denen, die innerhalb der Lungen-Heilstätten eine Genesung so weit erfahren hatten, dass sie am Leben blieben – in schlimmer bei jenen, die in der ebenfalls dort beheimateten neurologischen Abteilung der Heilstätten zu DDR-Zeiten von willigen Werkzeugen des Regimes gegen ihren Willen dauerhaft sediert wurden, dass man sie mühelos über Monate ruhiggestellt und für psychisch krank erklären konnte.
Das dritte und jährlich immer wiederkehrende Andenken an den Ort war das an den bekannten Beelitzer Spargel, der freilich mit einer der besten Qualitäten auf dem deutschen Markt aufwarten konnte. Diese Erinnerung war allerdings die unbestritten angenehmste.
Jerôme Mohr war einen Tag früher angereist, hatte sich den kleinen Ort angesehen, die Heilstätten und schließlich den Eingang der Kaserne in der Husarenallee. Bei der Abfahrt von der Autobahn waren sie an einer Werbetafel für das Landhotel Gustav vorbeigekommen, das nur wenige Meter von der Hauptstraße entfernt im Paracelsusring lag.
»Hier wirst du die Nacht verbringen, Jerôme«, hatte der Vater versöhnlich gesagt. »Da kannst du dich ausschlafen und morgen in aller Ruhe in die Kaserne einrücken.«
Es hatte Ärger gegeben, zu Hause in Leipzig. Samuel Mohr baute jahrelang seinen Sohn als seinen Nachfolger für die eigene Schokoladenmanufaktur auf. Was der Großvater Jerômes, Israel Mohr, 1892 begründet hatte, sollte weiterleben. Von Generation zu Generation. Freilich mit einer Unterbrechung von fast zwanzig Jahren, die unfreiwillig durch die Naziherrschaft herbeigeführt worden war und den Großvater 1944 in Auschwitz das Leben gekostet hatte. Dass Jerôme zum Wehrdienst eingezogen wurde, war eine unumgängliche Situation. Aber sich freiwillig für vier Jahre zu verpflichten und sich darüber hinaus zum Einsatz in Afghanistan zu melden, war für den Vater eine nicht zu verzeihende Ungeheuerlichkeit, die zu schmählichen Komplikationen innerhalb der Familie geführt hatte. Böse Worte waren auf beiden Seiten gefallen. Worte, die sie sicher beide schon bereuten. Doch weder Vater noch der Sohn waren in diesen Minuten bereit, den Streit zu begraben.
Zu gern wäre Jerôme mit seinem eigenen Wagen, einem schwarzen Golf der neuesten Generation mit 140 PS, nach Beelitz gefahren. Aber er hatte nur einige Tage Urlaub bekommen, als man ihn vom Logistikbataillon 461 in Walldürn nach Beelitz in Marsch setzte. Ganze zwei Tage hatte man ihm gewährt und auch nur deshalb, weil das Logistikbataillon 172, dem man ihn auf eigenes Betreiben zugeteilt hatte, nach Mazar-e Sharif in Afghanistan verlegt werden würde. Deshalb hatte Jerôme Mohr auch entschieden, das Fahrzeug zu Hause in Leipzig in der Garage zu belassen. Zu leicht wäre der Wagen ein Opfer möglicher Randalierer geworden, wenn er mehrere Monate unbeaufsichtigt auf dem Parkplatz der Kaserne gestanden hätte.
Als der Vater wieder in Richtung Leipzig abgefahren war, lieh sich Jerôme im Hotel ein Fahrrad aus, um damit die Stadt zu erkunden. Vorbei ging es an den Heilstätten und der Husarenallee. Die in grau-grüner Tarnfarbe gespritzten Lastkraftwagen, die aus der Kaserne fuhren, zogen für einen Augenblick seine Aufmerksamkeit an. Sie sahen nicht anders aus als die Wagen der Nibelungen-Kaserne in Walldürn. Die jungen Gesichter in den Führerhäusern nahmen sich auch nicht abweichend aus. Rekruten hatten Einheitsgesichter, die zwischen aufgeblähtem Selbstbewusstsein und Angst angesiedelt waren. Nur wer von den Jungen wie Jerôme in Zivil unterwegs war, konnte den Kasernenmief ablegen und verströmte möglicherweise wissbegierige, gespannte Neugier.
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