»Und sie verdrängten die Gedanken an Ihren Vater, weil sie der Mutter nicht wehtun wollten.«
»Ja.«
»Die Hand, die dich füttert, sollst du nicht abschlagen«, sagte der Psychiater und lächelte Christoph aufmunternd zu.
»So habe ich das gar nicht gesehen. Der Mann existierte für meine Mutter nicht, und für mich auch nicht. Meine Mutter war immer sehr fürsorglich.«
»Immer? Ich meine, heute auch noch?«
»Ja. Ich konnte kaum das Haus verlassen, ohne dass sie zwei-, dreimal fragte, ob ich auch ja nicht den Schlüssel vergessen hätte. Und jedes Mal machte sie mich darauf aufmerksam, dass ich die Tür richtig zuschließen sollte.«
»Wann stellten Sie fest, dass Ihnen diese Fürsorge zu weit ging?«
»Irgendwann in den letzten zwei Jahren begann mir diese Fürsorge wie eine Belästigung zu sein. Ich konnte nichts selbst entscheiden.«
»Sie fühlten sich wie die Puppe eines Schmetterlings, die nie aus dem Kokon entlassen wurde?«
»Das trifft es. Sie beeinflusste mich, welche Freunde ich akzeptieren konnte, wie oft ich zur Mathenachhilfe gehen musste.«
»Sie sorgte dafür, dass Sie zur Nachhilfe im Fach Mathematik gingen?«
»Ja. Es war mein einziges schwaches Fach. Aber ich boykottierte den Unterricht mental. Es war mein Protest, weil sie mich wie einen Säugling behandelte.«
»Nur deshalb?«
»Ich denke, ich lernte nichts, weil ich eine Aversion gegen das logische Denken hatte.«
»Aha.«
»In Wirklichkeit schickte sie mich wahrscheinlich da hin, weil sie ebenfalls eine Schwäche in diesem Fach hatte.«
»Als Lehrerin?«, fragte der Psychiater.
»Sie unterrichtet Deutsch und Musik.«
»Verstehe. Fühlen Sie sich von Ihrer Familie bevormundet?«
»Ja.«
»In inakzeptabler Weise?«
»Ja.«
»Haben Sie versucht, dagegen anzugehen?«
»Wie denn?«
»Mit Ungehorsam zum Beispiel?«
»Ja, natürlich.«
»Wie hat sich das geäußert?«
»Ich liebte meine Mutter, aber ich hasste sie auch manchmal für diese Bevormundung. Ich fühlte, dass ich mich so nicht entfalten konnte. Manchmal hatten wir kleine Auseinandersetzungen.«
»Wurden Sie so aggressiv, dass Sie Ihre Hand gegen Sie erhoben?«
»Ich habe sie nicht geschlagen. Aber ich habe sie mehrmals gegen die Wand gedrückt.«
»Aber es hat nichts gebracht.«
»Nein. Auch, weil die Omi mich belehrt hatte, was meine Mutter alles für mich tun würde. Sie hätte es nicht verdient, dass ich mich so gehen ließe.«
»Hatte Ihre Großmutter recht damit?«
»Ja, absolut. Meine Mutter hat viel für mich getan.«
»Und Ihr Großvater? Was sagte der dazu?«
»Er redete mit mir, wie mit einem kranken Hund. Aber ich brachte ihn auch mit meiner Haltung dazu, seine Zurückhaltung mir gegenüber aufzugeben.«
»Wie äußerte sich das?«
»Er ließ seine innere Ruhe vermissen, brüllte mich an, versuchte es mit den unterschiedlichsten Methoden, auf mich positiv einzuwirken.«
»Positiv in seinem Sinn?«
»Ja. Aber sicher auch in meinem Sinn. Nur wollte ich das nicht erkennen.«
»Kommen wir noch einmal auf Ihre Großmutter zurück. Nennen Sie mir nun ein konkretes Beispiel, wo ihre Oma sich gegen Sie gestellt hat. Das hat sie doch.«
»Nicht wirklich. Die Wahrheit ist, sie hat mir im Beruf sehr geholfen. Als ich meinen Meister machen wollte, wurde ihre Küche zur Backstube. Sie müssen wissen, meine Großmutter kann ausgezeichnet backen. Ohne sie hätte ich die Meisterprüfung nicht bestanden. Aber sie war es auch, die mich als ‚Dünnbrettbohrer‘ bezeichnete, weil ich es bei keiner Arbeitsstelle länger ausgehalten habe.«
»Zog sie damit einen Vergleich zu Ihrem Vater?«
»Eher selten.«
»Aber ein-, zweimal schon?«
»Ja.«
»Haben Sie deshalb versucht, während Ihrer kurzen Zeit beim Bund Kontakt zu Kameraden zu bekommen, die möglicherweise in einen Kampfeinsatz gehen werden?«
War Christoph Senz, nach anfänglicher Unsicherheit, während des Großteils des Gesprächs zu einer nahezu normalen Stimmung gekommen, die ihn mühelos aus seinem Leben berichten ließ, änderte diese Frage schlagartig sein Verhalten. Das Zittern in der Stimme, die Unsicherheit, die ihn verriet, wenn er die Gelenke seiner Finger zum Knacken brachte, das Spiel der Falten auf seiner Stirn und die Schläge der Augenlider zeigten dem erfahrenen Psychiater, dass er einen jungen Mann vor sich hatte, der von Selbstzweifeln zerfressen wurde.
»Ja. Das war wohl der Auslöser. Ich wollte ihnen Stärke beweisen.«
»Aber diese Stärke haben Sie nicht? Sie haben Angst vor dem Dienst beim Bund?«
Christoph Senz kämpfte mit den Tränen.
»Ja. Ich … ich glaube, ich bin dem nicht gewachsen. Allein das Rumbrüllen beim Wecken versetzt mich in einen Zustand der Unsicherheit.«
Der Psychiater war ein Mann, dem die »Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull« durchaus geläufig waren. Er hatte schon alles erlebt von Männern, die dem Wehrdienst entgehen wollten, und war mit nahezu allen Tricks bestens vertraut. Hier hatte er es mit einem jungen Mann zu tun, dem es an jeglichem Selbstbewusstsein fehlte. Sicher schrie der Mann nach einer Befreiung vom Bund, aber nicht, weil er sich drücken wollte, sondern weil er sich in tiefer psychischer Not befand.
»Herr Senz, ich sehe durchaus, in welcher Verfassung Sie sich befinden. Ich werde Sie dienstuntauglich schreiben, wenn Sie mir versprechen, sich in psychiatrische Behandlung zu begeben. Werden Sie mir das zusagen?«
Als Senz nichts sagte, fuhr er fort: »Aufgrund unseres Gesprächs habe ich den Eindruck, dass Sie dringend einer solchen Behandlung bedürfen, um festzustellen, was notwendig ist, um gewisse Unsicherheiten, die Ihr ganzes Leben beeinträchtigen, zu beseitigen. Es kann sich um Psychosen handeln … aber auch um Schlimmeres. Genaues kann nur eine langwierige psychiatrische Untersuchung zutage bringen. Können Sie mir zusagen, sich in eine solche Behandlung zu begeben?«
Christoph Senz zögerte einen Moment. »Ja.«
»Fragen Sie Ihren Großvater oder besser Ihren Onkel, der wird Ihnen sicher behilflich sein können«, sagte der Psychiater.
»Ich werde meinen Onkel fragen.«
»Bisher habe ich dienstlich mit Ihnen besprochen. Jetzt werden wir uns noch ein wenig unterhalten. Ich werde versuchen, Ihnen noch einige Ratschläge zu geben.«
Sechs Tage später verließ Christoph Senz die Hans-Joachim-von-Zieten-Kaserne in Beelitz und suchte erst einmal Zuflucht bei seinen Großeltern in dem kleinen brandenburgischen Dorf, in dem das Grundstück mit dem Haus – umgeben von riesigen Feldern der ehemaligen LPG – wie eine Oase lag.
Mazar-e Sharif, Herbst 2001
In seinen Pluderhosen und dem schwarzen Turban fand Ahmad Romhi sich eigenartig aussehend. Lieber hätte er die schwarz-weiß karierte Kufiya des palästinensischen Widerstandes getragen. Damit wäre er aber hier im Norden Afghanistans zu sehr aufgefallen. Jede Befragung nach seiner Herkunft und Tätigkeit wollte er jetzt umgehen. Schließlich hatte Al Djasira seinen Tod bereits in die Welt hinausgeschrien. Es hätte ihn auch tatsächlich beinahe erwischt. Aber die Bombe hatte seinen Begleiter zerrissen, den man für ihn ausgab. Und so konnte er seinen Feldzug gegen den westlichen Imperialismus unerkannt fortsetzen.
Der klapprige alte Wagen ohne Motorhaube, auf dessen Ladefläche Said el Oteiba und Ahmad Romhi saßen, zog eine breite Staubfahne hinter sich her. Die brütende Hitze ließ die mächtige Kuppel der Moschee in Mazar-e Sharif – Grab des Edlen –, die mit ihren blaugrünen Fliesen aus der Ferne zu sehen war, flirrend erscheinen. Hunderte weißer Tauben hielten sich vor dem Gebäude auf, stolzierten gurrend umher und flogen hoch, wenn sie sich bedroht fühlten. Der Einfluss iranischer Architekten war unverkennbar. Es war eine Reminiszenz an die Schiiten, denen rund zehn Prozent aller Muslime zugerechnet werden und die im Iran vorherrschend sind. In dieser Moschee wurde angeblich der Stammvater der schiitischen Glaubensrichtung, Ali ibn Abu Talib, auf wundersame Weise bestattet. Ein weißes Kamel hatte, der Überlieferung zufolge, den Leichnam des Sharifs aus dem fernen Mesopotamien in die fromme Landschaft Baktriens transportiert.
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