Natürlich parkte ich letztlich doch in der Tiefgarage, nachdem ich einige Runden in der Rheydter Innenstadt auf der Suche nach einem Parkplatz drehen musste. Die Parkgebühren würde mir Bernd aber auf jeden Fall erstatten müssen. Zumal ich jeden Cent brauchte, denn es wurde allmählich Zeit, dass ich mir einen neuen Wagen zulegte. Mein alter Ford gab mittlerweile so merkwürdige Geräusche von sich, dass ich befürchtete, er könne jederzeit auseinanderfallen.
Noch lief der Wagen allerdings und nachdem ich die Fahrertür beim Aussteigen gegen einen Pfeiler stieß, sinnierte ich längere Zeit darüber nach, ob es überhaupt einen Sinn machte, einen neuen Wagen zu kaufen. Irgendwie schaffte ich es ja immer wieder, neue Beulen in das Blech zu bekommen. Seufzend begab ich mich auf den Weg zu Frau Ottkans.
Das Alter der Dame lag mit Sicherheit weit über achtzig Jahre, jedoch machte sie einen noch recht rüstigen Eindruck auf mich. „Wollen sie nicht hereinkommen, junger Mann?“ Noch leicht keuchend - immerhin befanden wir uns hier im dritten Stock eines Hauses ohne Aufzug - stützte ich mich am Türrahmen ab. Vielleicht sollte ich doch wieder etwas mehr trainieren; in letzter Zeit kam das Ausdauertraining immerhin ein wenig zu kurz ...
Die alte Frau winkte einladend mit der Hand. Ich hatte mich noch gar nicht vorgestellt, wie konnte sie so vertrauensvoll sein? Mein Detektivsinn erwachte.
„Wissen sie denn, wer ich bin? Sie bitten mich so vertrauensvoll herein.“ - „Natürlich, sie sind doch der Polizist, der meinen Männe gefunden hat. Kommen sie herein.“
Ich seufzte. „Gute Frau, ich bin weder Polizist, noch habe ich ihren Männe gefunden.“ Wenigstens war jetzt klar, dass es um ihren verschwundenen Ehemann ging. Die Sache fing an spannend zu werden. „Ich bin Jonathan Lärpers von der Detektei Argus“, fügte ich hinzu und trat in die Wohnung.
Doch jetzt stellte die Frau sich mir in den Weg: „Sie sind nicht von der Polizei? Ich schreie, wenn sie näher kommen! Verlassen sie sofort meine Wohnung! Wieso geben sie sich eigentlich als Polizist aus, wenn sie keiner sind? Und wo ist mein Männe?“
Rasch ging ich den Schritt zurück in den Hausflur. „Sie haben uns doch angerufen“, versuchte ich es verzweifelt erneut. „Die Detektei! Wir sollen ihnen helfen, ihren Mann wiederzufinden.“
Jetzt sah mich die Alte skeptisch an. „Warum sagen sie das denn nicht gleich? Faseln da immer wieder was von Polizei. Aber wieso suchen sie meinen Mann?“
Im Geiste raufte ich mir die Haare. Allmählich wurde mir auch klar, warum die Informationen in meiner Akte so spärlich vorhanden waren.
„Kommen sie doch herein. Sie müssen nicht im Hausflur stehen bleiben.“ Erneut winkte sie mir, die Wohnung zu betreten. Vorsichtig folgte ich ihr, immer damit rechnend, wieder hinausgeworfen zu werden. Im kleinen Wohnzimmer nötigte sie mich, auf einem abgewetzten Sessel Platz zu nehmen.
„Darf ich ihnen einen Tee anbieten?“
Noch bevor ich ablehnen konnte, verschwand die Frau in der Küche. Ein Kaffee wäre mir jetzt lieber gewesen. Dann kramte ich die Ein-Blatt-Akte hervor und fing an, mir einige Notizen zu machen. ‚Wohnung im dritten Stock. Alter: sehr alt.‘ Ich nahm mir vor, Frieda Ottkans nach ihrem genauen Alter zu fragen. Dann notierte ich weiter: ‚Verschwunden: Ehemann, genannt auch Männe‘. Wie alt mochte der sein? Konnte man bei den beiden schon von Demenz sprechen?
Plötzlich klapperte Geschirr vor mir. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass die Frau wieder zurückgekommen war. Vorsichtig goss sie mir aus einer uralten Kaffeekanne ein.
„Danke, Frau Ottkans.“ Ich griff zur Tasse.
„Vorsicht heiß. Der Tee ist frisch aufgebrüht.“ - „Ja, danke Frau Ottkans. Das dachte ich mir schon fast.“ Vorsichtig nippte ich an dem Getränk. Was war das denn für ein Tee? Der schmeckte nach nichts. Nach Wasser, warmen Wasser.
„Zucker, Herr L...?“ - „Lärpers, Jonathan Lärpers. Von der Detektei Argus“, half ich ihr auf die Sprünge.
„Wollen sie nun Zucker oder nicht?“ - „Ja, bitte. Drei Würfel.“ Ein bisschen Geschmack wäre ja nicht schlecht.
Frieda Ottkans schüttelte mit dem Kopf. „Habe ich nicht.“
Jetzt war es an mir, ungläubig den Kopf zu schütteln. Erst bot sie mir Zucker an und dann besaß sie gar keinen? „Aber sie haben doch gerade selbst gefragt, ob ich Zucker möchte?“ Ich musste sehr ratlos ausgesehen haben, denn jetzt lachte die Frau: „Keine Würfel. Aber natürlich habe ich Zucker. Sehen sie - hier.“ Damit reichte sie mir eine Zuckerdose, die wohl ebenso alt war wie die Kaffeekanne.
„Also, Frau Ottkans. Kommen wir zu dem Grund, weshalb ich bei ihnen bin ...“
Die Alte unterbrach mich: „Weil ich sie angerufen habe.“ - „Genau, Frau Ottkans. Ich brauche noch einige Hinweise zum Verschwinden ihres Mannes. Wie alt ist der Gute denn?“
Frieda Ottkans sah mich wieder kopfschüttelnd an. Wenn die Frau eines gut konnte, dann mit dem Kopf schütteln. „Nein, Herr L...“ - „Lärpers.“ - „Ja, Herr Lärpers. Es geht nicht um meinen Mann. Wie kommen sie denn darauf?“
Fast hätte ich mir die Lippen an dem süßen, heißen Wasser verbrüht. Zuckerwasser! Auch nicht schlecht, nur um Tee handelte es sich definitiv nicht ... „Sie sprachen doch von ihrem ‚Männe‘. Wie heißt er denn genau - also mit vollem Namen - und wie alt ist er?“ Ich zückte meinen Stift. Erst einmal mit den grundlegendsten Informationen anfangen.
„Mein Männe - ja, um den geht es. Der Männe heißt ‚Racker‘ und ist zwölf Jahre alt. Und er ist verschwunden ...“ - „Ja, dass er verschwunden ist, weiß ich“, unterbrach ich die Frau. Dann schaute ich auf meine Notizen. Name: Racker Ottkans. Alter: zwölf Jahre.
‚Racker Ottkans‘, welch ein merkwürdiger Name. Und zwölf könnte ja schon gar nicht stimmen. Ob die Frau nicht doch ein wenig verwirrt war? Ich änderte die Zwölf in zweiundneunzig. Nach meinen Schätzungen konnte das schon eher hinkommen.
„Wie alt sind sie denn, Frau Ottkans?“ - „Ich? Wieso wollen sie das wissen, ich bin doch nicht verschwunden!“ - „Dem stimme ich zu, trotzdem - um das ungefähre Alter ihres Ehegatten zu verifizieren, interessiert mich das schon.“
Wieder schüttelte Frieda - mittlerweile nannte ich sie bei mir die ‚Kopfschüttlerin‘ - ihren Kopf. „Was wollen sie verfieren? Sind sie ein wenig dumm, Herr L...?“ - „Lärpers.“ - „Ja, Herr Lärpers. Verstehen sie denn nicht, dass es hier um Männe geht, meinen geliebten Racker?“
Aha. Jetzt wurde mir alles klar. Die Frau redete nicht von ihrem Ehemann, sondern von ihrem Liebhaber. Aber zwölf Jahre alt? Sie war doch bestimmt so um die Neunzig! „Wie alt sind sie denn, Frau Ottkans?“ - „Sag ich nicht.“ - „Bitte.“ - „Achtundachtzig.“ Akribisch notierte ich ihr Alter. Trotzdem war mir noch nicht klar, wieso eine Achtundachtzigjährige einen zwölfjährigen Liebhaber hatte.
„Sagen sie, Frau Ottkans“, versuchte ich Klarheit zu schaffen, „wie alt ist denn nun ihr Liebhaber? Das mit den zwölf Jahren glaube ich jetzt nicht wirklich.“
Wieder schüttelte Frieda ihren Kopf. „Liebhaber? Ich muss sie aber bitten, Herr L...!“ - „Lärpers.“ - „Ja, Herr Lärpers. Was spinnen sie sich denn da zusammen? Ich in meinem Alter einen Liebhaber? Wenn sie weiter so dummes Zeug reden, dann müssen sie aber gehen! Und Tee bekommen sie auch keinen mehr.“
Jetzt ließ sie sich in ihrem Sessel zurücksinken und verschränkte die Arme vor der Brust. Mir schwirrte der Kopf. Also kein Liebhaber? Und kein verschwundener Ehemann?
„Frau, Ottkans, wer ist denn nun verschwunden? Wenn schon nicht ihr Ehemann oder ihr Liebhaber?“ Vielleicht war es ja ein Bekannter von ihr ...
„Mein Mann ist schon seit über zwanzig Jahren tot“, erklärte sie trotzig, „aber was geht sie das an? Und mir einen Liebhaber anzudichten ... Das ist ja wohl eine Frechheit.“
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