Sie hatte ihre letzten Münzen zusammengekratzt und etwas von dem Heilmittel erstanden. Der Kerl meinte, sie solle es warm machen, dann wirke es besonders gut. Also kramte sie einen alten Topf hervor und machte ein kleines Feuer in ihrer Hütte. Die Wärme erfüllte den Raum bald und die Alte massierte ihre müden Beine.
Als der Nachtwächter vom Hafen durch die Breite Grube kam, sah er einen hellen Schein in der Krämerstraße. Was sollte das bedeuten? Wer machte so spät noch Licht? Er begann zu laufen und riss sich das Horn von der Schulter.
Feuer!
So laut er konnte schrie er „Feuer! Feuer!“ durch die Nacht, stieß in das Horn und schlug an alle Haustüren. Die ersten Bürger stürzten auf die Straße. Mit Ledereimern und Feuerpatschen bewaffnet rannten sie zum Haus von Kaufmann Hösick. Von dorther qualmte es fürchterlich und man hörte seine Schweine entsetzlich schreien. Hinter dem Stall brannte es lichterloh.
Die ganze Stadt lief zusammen, jeder Einwohner war verpflichtet, nicht nur Gerätschaften zur Brandbekämpfung bereit zu halten, sondern auch mit ganzem Körpereinsatz seine Stadt gegen solche Katastrophen zu verteidigen. So bildeten denn die Männer sehr schnell eine Kette und schöpften Wasser aus der Breiten Grube. Eimer um Eimer wurde weitergereicht. Kinder rannten herbei und schleppten die leeren Gefäße zurück zur Grube. Frauen trugen bereits Hab und Gut aus den benachbarten Gebäuden, denn inzwischen hatte das Feuer die Nachbarhäuser erreicht und fraß sich in beide Richtungen die Straße entlang.
Ganz Wismar geriet in Aufruhr. Wer irgendeine Art von Karren besaß lud seine Habseligkeiten auf und brachte sie fort. Alte Leute jagten Vieh vor sich her, Kinder spannten Ziegen und Hunde an Wägelchen und trieben sie in den Norden der Stadt. Ein höchstens dreijähriger Junge hielt zwei flatternde Hühner in den Händen und rannte mit flinken Füßen zum Hafen. Wasser, das wussten auch die Kleinsten, Wasser war lebensrettend.
Niemand weinte oder klagte, dafür war jetzt keine Zeit.
Man hätte es auch nicht gehört, denn aus dem Feuer war inzwischen ein Sturm geworden, der sich mit lautstarkem Gebrüll nahm was er kriegen konnte. Der Wind war in dieser Nacht sein bester Gefährte und trieb die Funken über den Marktplatz. Die Verkaufsbuden flackerten nur kurz auf, dann waren sie weg und die Flammen bissen genüsslich in das Rathaus.
Die Sommernacht geriet zu einer einzigen Katastrophe. Wismar zerfiel in Schutt und Asche, und was nicht zerbröselt am Boden lag, das trieb der Wind als graue Flocken über das Land.
Fassungslos hetzten die Menschen an den Stadtrand. Frauen schrien nach ihren Kindern, Vieh brüllte vor Schmerz, nicht jedes Tier hatte gerettet werden können.
Entsetzt schauten sich diejenigen, die sich zusammenfanden, um. Man erkannte sich kaum. Viele hatten nur ihre Nachtgewänder an und alle waren schwarz wie die Raben. Die Gesichter verschmiert, die Kleidung zerschlissen, arm oder reich, niemand konnte sie auseinanderhalten. Selbst die Frau vom Bürgermeister sah aus, als ob sie aus der Gosse kam.
Plötzlich knallte es hoch über ihren Köpfen. Als hätte er es ausgesprochen eilig, prasselte Regen in Sturzbächen auf sie herab, Gott hatte endlich ein Einsehen und schickte ein erlösendes Gewitter.
Die Menschen weinten und gingen, so wie sie waren, in das nächste Gotteshaus. Manche hatten ein Ferkel auf dem Arm und auch der kleine Junge mit seinen Hühnern war wieder da und ließ die Tiere endlich los. Niemanden interessierte es, zu welchem Kirchspiel er gehörte, alle strömten in die Nikolaikirche und auch die Pastoren fanden in seltener Einigkeit zusammen. Man dankte einfach nur seinem Schöpfer.
Vier Menschen hingen in der Kirche ganz besonderen Gedanken nach.
Jander und Jokoff Moderitz hatten zwei ihrer Häuser verloren und schielten bösartig zu ihrem ewigen Widersacher Johan Rikeland hinüber. Der wohnte an der Faulen Grube und war ungeschoren davongekommen. Das müsste sich doch ändern lassen.
Johan Rikeland dachte an die alte Benedicta, die das Rätsel um die beiden Engelsfiguren mit in den Tod genommen hatte. Mochte nie jemand hinter dieses Geheimnis kommen, das nun er ganz allein bewahrte und welches sich im Fußboden seines Kontors befand, gemeinsam mit der Hand seines Sohnes Bernhard.
Conrad Rikeland war entsetzt über die Vernichtung der Stadt und das Leid, das nun über viele Menschen hereinbrach. Wie schnell die Feuersbrunst alles verschlungen hatte. Das konnte Gott nicht gewollt haben. Er hob den Kopf und sah hinauf in das Gewölbe der Kirche. Würde auch eine Kirche brennen? Wahrscheinlich, aber doch wohl nicht so wie die Holzhäuser. Der Herr würde es nicht verhindern können. Er lauschte dem Pastor nicht mehr, sondern studierte aufmerksam Dach und Wände, und so kam es, dass ein vierzehnjähriger Junge nicht nur über den Kirchenbau nachdachte, sondern über eine ganze Stadt aus Stein.
August 1262 – Die Beginen
Die Stadt stank.
Vier Wochen nach dieser schrecklichen Nacht kündete sie mit ihrem Geruch immer noch weithin von der Feuerkatastrophe. Das einzig Gute daran war, das die sonst noch übleren Ausdünstungen, welche sie gemeinhin an sich hatte, überdeckt wurden. Die Gerüche der faulenden Fischreste am Hafen, das vor sich hin gammelnde Stroh in den Straßen, mitsamt dem Dreck der Schweine, Ziegen, Hühner und Menschen verschwanden unter einer brandigen Dunstglocke.
Ihre Einwohner waren so emsig wie immer, sie ließen sich nicht unterkriegen. Ein Brand war zwar tragisch, aber durchaus alltäglich. Ständig hörte man von Händlern, dass irgendwo eine Stadt oder ein Dorf in Flammen aufgegangen war.
Auch in Wismar fackelte hin und wieder ein Haus oder eine Stallung ab, aber so, wie in jener Nacht, so lichterloh und unerbittlich hatte der rote Hahn hier noch nie gewütet.
Wer gar nichts mehr besaß und auch nicht bei Verwandten unterkriechen konnte, der versuchte sein Glück in einem der restlos überfüllten Hospitäler.
Diejenigen, die es sich leisten konnten, bauten ihre Bude, ihr Häuschen oder Lagerhaus wieder auf. Der Holzhandel war das Geschäft der Stunde, Zimmerleute waren jetzt gefragte Handwerker und selbst die Ärmsten der Armen wurden hin und wieder als Handlanger gebraucht.
Zum Heulen und Wehklagen nahmen sich die Menschen keine Zeit. Ein Rathaus musste gebaut werden, auch diese neues Gebäude errichtete man wieder aus Holz. Noch war man nicht schlau aus dem Unglück geworden. Es wurde an die Westseite des Marktplatzes gestellt, so hatten die Ratsherren nicht nur das Treiben der Menschen gut im Blick, sondern auch die Rats- und Marktkirche Sankt Marien. Nur hundert Meter weiter zeigten sich die ersten Umrisse der zukünftigen Georgskirche. Die Türme beider Gotteshäuser mussten den späteren Ratsleuten einmal einen großartigen Anblick bieten.
Zwischen all dem geschäftigen Hin und Her fielen ein paar Frauen und Mädchen auf, welche in grauer Tracht und immer nur zu zweit durch die Straßen eilten.
Ein Junge wie Conrad nahm wenig Notiz von ihnen. Mönche gab es genügend in der Stadt, schwarz und braun gewandete sah er fast täglich. Nun liefen eben auch noch ein paar Nonnen herum, was scherte es ihn.
Als er durch die Haustür stürzte, um seinem Vater zu berichten was es an Neuigkeiten auf seiner Lieblingsbaustelle gab, hätte er beinahe zwei von ihnen umgerannt. Die grauen Vögel, wie er sie insgeheim nannte, trugen einen Korb voll Wäsche und wollten gerade ins Freie treten.
„Entschuldigt“, kriegte er ganz knapp über die Lippen. Frauen mochte er nie gerne ansprechen und so machte er sich ganz dünn um an ihnen vorbei ins Haus zu gelangen.
„Tölpel!“, erwiderte die eine und blickte Conrad fest ins Gesicht. Ein Paar grüne Augen nagelten ihn an den Türrahmen.
Keinen Schritt konnte er mehr machen und auch sein Verstand verweigerte für einen Moment den Dienst. Er stammelte: „Ich... ähm...wollte nicht... ähm...“
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