„Verrate noch nicht zu viel Vater, ich möchte gespannt bleiben.“ Mit diesen Worten hüpfte er aus der Tür. Noch mehr des Guten konnte er nicht ertragen, sein Beutezug letzte Nacht war erfolgreich verlaufen und noch glücklicher konnte ein Junge von zwölf Jahren kaum sein.
Nach der Schule zog es ihn wieder durch die Stadt, von Baustelle zu Baustelle. Seine heimliche Liebe galt dabei einer Kirche, die es noch gar nicht gab. Ihre Fundamente wurden aber schon gelegt. Täglich brachten die Bauern aus der Umgebung große Feldsteine auf den Hügel. Eine neue Georgskirche sollte gebaut werden. Die Alte mit ihrer winzigen Kapelle an der Reifferbahn war viel zu klein und morsch geworden. Das Hospital gab es an dieser Stelle schon zehn Jahre nicht mehr. Conrad hatte es nie kennen gelernt. Nur der Kirchhof, den besuchte er regelmäßig mit seinem Vater. Bernhard lag dort, ein ermordeter Sohn seines Vaters und nicht wirklich sein Bruder. Conrad wusste, dass Johan Rikeland ihn nur an Sohnes statt aufgenommen hatte, aber er nannte ihn gerne Vater. Er liebte den gütigen alten Mann, sonst hatte er ja niemanden.
Die Sonne schien schon recht warm an diesem Maitag und Conrad hüpfte an der Baugrube entlang und beobachtete die Arbeiter, wie sie die schweren Steine abluden, Sand schaufelten oder auch mal einen Schluck Bier tranken. Er legte sich auf den Rücken in das Gras, zupfte einen Halm aus, steckte ihn sich zwischen die Zähne und dachte kurz an seinen Vater. Ja, er wusste auch, dass Johan ihn zu seinem Nachfolger im Tuchgeschäft machen wollte. Sicher, er konnte rechnen wie kein zweiter in der Schule. Aufs Handeln verstand er sich auch schon ganz gut. Bei den Marktweibern war er verrufen, weil er es immer schaffte die Preise zu drücken, bevor er Honig, Milch oder Früchte kaufte. Aber Stoffe, diese trockenen leblosen Bahnen, die interessierten ihn nicht. Steine, an denen hing sein Herz. Die hatten eine Seele, und keiner sah aus wie der andere. Wie waren sie gewachsen, woher kamen sie? Und weil der Mensch Steine herstellen konnte, fragte er sich woraus diese wohl bestanden. Er starrte in den Himmel und überlegte wie hoch die neue Kirche werden würde. Noch interessanter aber schien ihm die Frage, wie hoch man Kirchen überhaupt bauen konnte. Vater war weit herumgekommen und hatte ihm von anderen Städten berichtet, auch befreundete Händler erzählten hin und wieder was sie gesehen hatten. Manchmal sah er Zeichnungen und seine Phantasie überschlug sich fast.
Er musste lächeln. Als er noch kleiner war, hatte er beobachtet, wie die Arbeiter Lehm und Wasser zusammenrührten, in eine Form strichen und später den getrockneten Ziegel im Ofen brannten. Er stahl so einen Grünling, wie die ungebrannten Ziegel hießen und schleppte ihn nach Hause. Dort zog er das Brot aus dem Backofen und legte an dessen Stelle den Baustein hinein. Noch immer hörte er die Magd schreien, weil sie glaubte der Leibhaftige hätte ihr Brot in Stein verwandelt.
Eine Dunkle Wolke zog am Himmel vorüber und plötzlich fielen Regentropfen zur Erde. Es wurde Zeit nach Hause zu gehen, Vater hatte eine Überraschung versprochen, falls die Lateinprüfung gut ausfallen sollte. Sie war sogar ausgezeichnet gelaufen, Vater würde sich freuen und Conrad war sehr neugierig auf das, was zu Hause auf ihn wartete. Er sprang auf und trat den Heimweg an.
Der Regen nahm sehr schnell zu und Conrad sprang von Stein zu Stein. Plötzlich rutschte er aus und fiel etwa sechs Fuß tief in die Baugrube. Es knackte abscheulich und sein Bein baumelte unterhalb des Knies wie ein Lämmerschwanz. Schreiend bekam er noch mit, wie die Arbeiter zusammenliefen, dann schwanden ihm die Sinne.
Als er wieder zu sich kam, lag er auf einem Bett. Sein Bein steckte zwischen zwei Holzlatten und war mit schmalen Stoffstreifen umwickelt. Es tat höllisch weh, aber Blut konnte er nicht entdecken. Er sah sich um und wusste sogleich wo er sich befand. Hier wuchs er als kleiner Junge auf, bis Johan Rikeland ihn mit nach Hause nahm. Conrad lag im Hospital vom Heiligen Geist. Eine Menge Kranker schlief oder döste um ihn herum. Ein paar Schwestern huschten durch die Gänge.
Am Ende des Raumes sah er ein Mädchen, das einen Wassereimer trug und anscheinend die Durstigen versorgte. „He“, rief er, „Du, bring mir Wasser, ich will trinken!“ Das Mädchen beachtete ihn kein bisschen. „He“, rief er noch einmal, „ich habe Durst.“ Sie verschwand. Eine Schwester kam, um nach ihm zu sehen und ihm zu sagen, dass sein Vater unterwegs sei, um ihn nach Hause zu holen. „Ich will trinken“, sagte er, „aber das Mädchen hat mich nicht beachtet.“ „Nun ja“, antwortete die Schwester, „das ist Ghese, sie ist wohl so eigenwillig wie Du, aber ein liebes Ding. Sei freundlich zu ihr, dann bekommst Du auch Wasser. Sag ‚bitte’, das hört sie gern.“
Conrad sah Ghese an diesem Tag nicht wieder, aber ihr flammendrotes Haar, davon fand er eines auf den Laken. Er rollte es zusammen und steckte es ein. Es faszinierte ihn, eine solche Farbe hatte er noch nie vorher gesehen.
Sein Vater kam und holte ihn ab. Der Pferdekarren rumpelte durch die Lübsche Straße zur Faulen Grube. Es war nur ein kurzer Weg bis nach Hause und Conrad überlegte ob sein schweigsamer Vater wohl sehr wütend auf ihn sei.
„Wir haben Besuch“, sagte dieser nach einer Weile. „Mein alter Handelspartner Heesten aus Flandern ist bei uns. Du solltest eigentlich mit ihm fahren und das Geschäft einmal von einer anderen Seite aus kennen lernen. Das sollte die Überraschung sein.“ Er sah seinen Sohn streng an, dann musste er schmunzeln. „Ich sehe aber“, meinte er, „dass die Steine Dich nicht gehen lassen. Du kannst nicht ohne sie sein, was? Erzähle mal, wie hast Du Dir Deine Zukunft vorgestellt?“ Johan Rikeland knuffte seinen Sohn zärtlich in die Seite.
Dieser glaubte kaum was er vernahm. Vater lenkte ein und zwang ihn nicht in das Tuchgeschäft? Sofort fing Conrad an zu erzählen. Es sprudelte nur so aus ihm heraus und Rikeland hörte Begriffe, die er noch nie zuvor gehört hatte.
„Ich will lernen“, sagte Conrad, „ich muss wissen, wo die Steine wachsen, lass mich studieren und alles über Trauflinien, Wasserschläge und Blendbögen herausbekommen. Worin unterscheidet sich eine Basilika von einem Dom? Was sind Arkaden und Kragsteine? Ich habe schon soviel gehört Vater, aber es reicht mir nicht. Ich will Kirchen bauen.“
Der Tag war anstrengend für die alte Benedicta.
Ihre Knochen knackten schrecklich und trotz der warmen Nacht fröstelte es sie ein wenig. Sie war zu alt um noch den ganzen Tag auf den Beinen zu sein, immerhin erreichte sie in diesem Sommer ihr dreiundachtzigstes Jahr. So erzählte man jedenfalls, und das, so sagte man auch, sei ungewöhnlich. Nur in der Bibel wurden die Menschen so alt wie Methusalem, und der war viele hundert Jahre alt geworden. Das behauptete der Pastor, und wenn er in der Kirche solche Geschichten predigte, dann sah man sie schon seltsam an und tuschelte hinter ihrem Rücken. Ganz in ihrem Inneren fürchtete sie sich davor immer noch älter zu werden.
Benedicta lebte in einer erbärmlichen Hütte inmitten der Stadt. Eigentlich klebte die Bude an der Rückwand eines Schweinestalles in der Krämerstraße.
Sie hätte auch in einem der Hospitäler dahinsiechen können, aber das war nicht ihr Wille. Solange sie kriechen konnte, wollte sie selbst für sich sorgen. Kinder waren ihr nie beschieden, ihr Mann verließ sie deswegen schon früh.
Vor ein paar Tagen zog ein Quacksalber durch die Stadt und pries lauthals eine Mixtur an, die ein wahres Wundermittel gegen sämtliche Krankheiten sein sollte. Krätze würde sie heilen, Leibschmerzen und Zahnweh. Benedicta hatte ihm vergnügt ihre Zahnstummeln präsentiert und gefragt, ob das Elixier daraus wohl wieder Perlen machen könne. Die Zuschauer auf dem Markt grölten vor Begeisterung.
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