An diesem Abend lag Conrad glücklich in seinem Bett. Gleich morgen wollte er zu Egidius Medenge gehen und sich entschuldigen. Nichts sollte seinen Start als Baugehilfe beschweren. Er wusste, dass er einen langen Weg vor sich haben würde. Seine Gedanken kreisten aber nur kurz um Backsteine und Kirchen. Immer wieder gingen ihm die Worte Johan Rickelands im Kopf herum. Beginen lebten unkeusch und trieben ungeheuerliche Dinge. Seine Phantasie reichte nicht aus um zu einem Ergebnis zu kommen. Endlich riss ihn der Schlaf mit sich fort und Conrad träumte von einer riesigen Kirche, wie sie selbst Wismar nicht besaß. Ihm kam es vor als stäche sie mit ihrer endlos langen Kirchturmspitze Gott in seinen Allerwertesten. An dicken Pfeilern prangten mächtige Frauenköpfe mit grünen Augen und roten wallenden Haaren. Ihre Münder waren weit aufgerissen und lachten ihn schamlos aus.
Gallus Sympathicus - Der Erzähler
Frauen, unter ihnen viele wohlhabende Witwen, schlossen sich seit Beginn des 13. Jahrhunderts zu religiösen Gemeinschaften zusammen. Sie waren autonom, selbständig und finanziell unabhängig. Man nannte sie Beginen, aber auch Polternonnen oder Seelschwestern. Sie legten nur ein Gelübde auf Zeit ab und konnten, wann immer sie wollten, den Beginenhof verlassen, aus dem Konvent austreten, heiraten und ein bürgerliches Leben führen. Ihre Aufgabe sahen sie nicht nur in religiösen, sondern auch sehr praktischen Zwecken. So widmeten sie sich u.a. der Krankenpflege, der Rettung moralisch Gefallener oder übten das Textilhandwerk aus. Der Klerus konnte mit den selbstbewussten Damen, die einerseits wahrhaftig nach christlichem Glauben lebten, andererseits klösterliche Regeln missachteten, nicht viel anfangen, Er verdächtigte einige von ihnen der Häresie und verbot sie ab und an. Besonders die deutschen Bischöfe kämpften vehement gegen die Beginen.
Männer, die sich auch zu solchen Gemeinschaften zusammenschlossen, nannte man Begarden, mancherorts auch Lollarden.
In Wismar lebten die Frauen im Marianischen Konvent, Lübsche Straße Ecke Beguinenstraße, zusammen und waren dem Franziskanerorden angeschlossen. Lustigerweise hielten sich zeitweilig in unserer Stadt mehr Beginen auf, als Graue Mönche zu finden waren.
Zu einem der vorigen Kapitel möchte ich nur soviel anmerken, dass der Übeltäter, welcher für das Grauen in Wismar verantwortlich war, nichts mit dem Stammbaum derer von Gallus zu tun hat, wenngleich uns auch eine geringfügige Namensähnlichkeit verbindet. Wie entsetzlich!
Er durfte nicht hier sein, aber die Gier nach Rache war größer.
Hier, in der dreckigsten Kaschemme die er je gesehen hatte, wollte er einen Mann treffen, dem jeder Bürger Wismars aus dem Wege ging, den Anführer einer Kinderbande, die in den Wäldern und Dörfern zwischen Lübeck, Rostock und Schwerin ihr Unwesen trieb.
Die Tranfunzel ließ seine Augen tränen und verrußte ihm das Gesicht, aber das war auch gut so. Niemand sollte ihn erkennen, darum zog er die Kapuze seines Umhanges tiefer ins Gesicht. Die Männer an den anderen Tischen vergnügten sich mit kreischenden Dirnen. Ihm war das Treiben in der Schänke „Zur Fackel“ höchst zuwider. Oh, Mädchen mochte er schon, aber als Mitglied des Stadtrates konnte er sich bessere Weiber leisten.
Die Tür öffnete sich lautlos und niemand nahm Notiz von der eintretenden Gestalt. Lediglich der Hauch des Winters streifte kurz alle Anwesenden im Schankraum. Wortlos setzte sich der Kerl neben ihn, nahm ihm den Becher Bier weg und leerte ihn in einem Zug.
Ein übler Dunst breitete sich um den Eingetretenen aus.
„Welcher von euch bist Du?“ fragte er.
„Ist das wichtig?“
„Sicher, ich kenne meine Feinde gern.“
„Warum Feind? Ich habe nichts mit Dir.“
„Hinterher schon, es ist immer so. Also?“
„Jander“
„Der Ratsherr persönlich?“ Leises Lachen ertönte. „Ihr Moderitzbrüder macht noch Dunklere Geschäfte als meine Bande. Es soll mir ein Vergnügen sein, für Euch zu arbeiten. Und Euch soll es ordentlich was kosten.“
„Psst, sei doch still! Du wirst nicht zu kurz kommen, vorausgesetzt das Ergebnis fällt so aus, wie ich es mir vorstelle.“
„Seit dem beschlossenen Hansebündnis vor vier Jahren ist es riskant geworden, die Handelswege zu belagern.“
„Wegelagerei ist nicht mein Ziel. Ich erwarte von Dir, dass Du mir mit Deinen Kindern im Herbst...“
Jander Moderitz rückte ganz nah an seinen stinkenden Nachbarn heran und flüsterte ihm sein Begehren zu.
Der lachte laut und schallend. „Verstehe ich recht? Hunderte? Und für jedes Dutzend einen Viertelpfennig?“
Moderitz kroch in sich zusammen und lag mit dem Gesicht fast auf der Tischplatte. Wenn der Kerl so weitermachte, dann blieb dieses Treffen hier nicht unentdeckt.
„Ich frage Dich nicht was Du damit vorhast Mann. Dein Anliegen ist von seltsamer Natur. Zahle den vereinbarten Preis und wir sehen uns nach dem Sommer wieder.“
Das Geschäft wurde mit einem Handschlag besiegelt.
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Am selben Abend saß Conrad im Kontor seines Vaters und schrieb. Pergament war teuer, Wachstafeln auch, aber auf ihnen konnte er wenigsten einen Fehler riskieren, der ließ sich immer wieder ausbessern. Obwohl, Fehler sollte er tunlichst vermeiden. Baumeister Medenge nahm alles übel und Conrad wollte seine Ausbildung nicht gefährden.
Seit einigen Wochen saß Ghese regelmäßig neben ihm und berechnete Kreise, Winkel und Mengen. Er hatte sie nicht länger abwehren können. Dieses Mädchen war erstaunlich. Als sie merkte, woran er so fleißig arbeitete, bat sie ihn, es ihr beizubringen. Jeden Abend, wenn er nach Hause kam, und das war meistens spät, wartete sie schon. Das Beginen ein so freies Leben führten, beeindruckte ihn. Noch mehr beeindruckte ihn aber die schnelle Auffassungsgabe seiner Schülerin. Nie hätte er geglaubt, dass auch Mädchen logisch denken können.
Johan Rikeland machte anfangs großes Theater. Wenn er auch nicht schrie, so war er doch äußerst ungehalten und machte Conrad immer wieder Vorhaltungen wegen der Verbindung zu diesem Mädchen. Teilweise hatte er Recht. Die teure Ausbildung für seinen Sohn zahlte er aus seiner Tasche und nun kam dieses Kind daher und machte sich dessen Wissen unentgeltlich zu nutze. Anfangs verbot er den beiden Beginen sein Haus jemals wieder zu betreten. Dann trafen sich die Kinder aber vor den Toren der Stadt und Conrad zeichnete und schrieb mit einem Stöckchen in den Sand, was er am Tage gelernt hatte und Ghese sog all das mit der frischen Luft in sich ein.
Das andere Mädchen, jenes mit dem blonden Zopf hielt sich immer im Hintergrund. Sie sprach kaum und Rikeland wusste nur ihren Namen, Elsa.
Eines Tages beobachtete er, wie Ghese seinem Sohn den Stock aus der Hand riss, heftigst gestikulierte und die Zeichnungen im Sand auslöschte. Erstaunt sah er, dass sie immer wieder auf Conrad einredete, Wörter und Zahlen auf den Boden malte und Conrad mit hochrotem Kopf nur noch nicken konnte. Später erfuhr er, dass Conrad sich bei der Berechnung einer Wand aus Backsteinen schwer geirrt hatte und, sollte sie gebaut werden, keinen Tag stehen bleiben würde.
„Was treibt dieses Mädchen an soviel lernen zu wollen?“, fragte er beim abendlichen Mahl.
„Ich weiß nicht Vater, sie ist besessen von Zahlen und Buchstaben. Man könnte glauben, sie ernähre sich davon. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass sie viel schlauer ist als ich. Aus meinem Schädel sickert manchmal etwas heraus, dieser Mädchenkopf aber ist wie ein neues Weinfass, alles bleibt drin und wird mit der Zeit sogar immer besser.“
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