Nett war er ja, dachte sie. Und wenn sie seine Worte richtig deutete, ging ihm die Freundin über alles. Wie oft sie in letzter Zeit so merkwürdig darüber nachdachte, wie verschieden sich die Welt entwickelt hat, konnte sie nicht mehr zählen. Momentan spürte sie, wie enttäuscht sie von sich selbst war, weil sie wenigstens ein Wort von Dankbarkeit erwartet hätte, dass er hier sein darf. So war sie nie. Dankbarkeit zu erwarten hätte ihr Leben, in dem sie selbst arm dran war, gar nicht ermöglicht.
Warum sollte ihr gegenüber jemand von Dankbarkeit reden? Es ist nicht ihr Verdienst, dass es hier keinen Krieg gibt wie in seinem Land. Hier ist er sicher, und so wie er ausschaute, hat er sogar ausreichend warme Kleidung. Dennoch schien er erkältet. Die Nase rot gefroren, Tränen vom eisigen Wind in den Augen. Vermutlich bekam ihm das Klima nicht. Wissen diese Menschen nicht, wohin sie da flüchten?
Ärgerlich unterdrückte Isa diesen Gedanken. Heimlich möchte sie Gary Recht geben. Es ist eine Schwäche von ihr, nicht nur jedem Menschen Aufmerksamkeit zu widmen, auch seine Gedanken und Gefühle ergründen zu wollen.
Noch auf den Stufen nach unten stapfte sie härter auf als gewöhnlich: Es musste doch für einen erwachsenen Mann logisch gewesen sein, dass es hier kalt wird. Und es musste ihm auch bewusst gewesen sein, dass er hier kein goldenes Schloss errichtet bekommt.
Die jungen Leute können mit einer Zwei-Zimmer-Wohnung mit Komfort wahrhaft zufrieden sein.
In diesem Mietshaus, auf diesem Flur, trafen nun gelegentlich zwei Welten aufeinander, die voneinander nichts wussten. Vielleicht lernte man daraus? Vielleicht tat man sich gegenseitig gut?
Zum ersten Mal besprach sie mit Gina etwas, was sie gerade erlebt hatte. Und zum ersten Mal wusste sie, warum sie ihre Meinung nie lauthals von sich gab. Aus Gina kamen Töne, die sie nicht vermutet hätte: »Ich kann dieses Ausländergeschwafel nicht mehr hören. Überall nur noch: Ausländer. Ausländer. Ausländer. Als hätten wir keine eigenen Sorgen.«
Kannte sie Gina je so abwerten, so unumkehrbar in ihrer Meinung?
Im Handumdrehen spürte Isa kein Schlagen mehr in ihrer Brust. Es war ein Rütteln, ein Getöse zwischen den Rippen, das ihre Bestürzung verstärkte. »Alles kehrt wieder zurück, heißt ein altes Sprichwort«, sagte sie sehr darauf bedacht, Gina nicht zu kritisieren. »Ich denke, jetzt ist die Zeit, wo sich die Sünden unserer Vorfahren zu rächen beginnen.«
»Meine Vorfahren haben weder Afghanistan noch Syrien gekannt. Und wenn, dann aus den Märchen aus Tausend und einer Nacht.«
Unmerklich duckte Isa ab, klein beizugeben lag ihr aber nicht, nicht, wenn ihr Gewissen sie ermahnte.
»Wo ich das Elend gesehen habe, hatten unsere Vorfahren die Völker gebeutelt. Seit Jahrhunderten…«
»Aber den Fortschritt haben sie auch dahin gebracht.«
»Es kommt immer darauf an, wie man Fortschritt definiert. Auch heute sagt man, man bringe den Fortschritt. Was tut man? Man verhindert deren Fähigkeit zur Selbsthilfe.«
»Dann sollen die jungen kräftigen Männer doch auch bleiben, wo sie gebraucht werden, und ihre Heimat voranbringen. Wir brauchen sie doch nicht.«
Isa verstand die kranke Vorsicht nicht, die in vielen Menschen steckte, wenn sie von Ausländern hörten. »Wir waren ein paar Jahre lang selbst Ausländer in einer völlig anderen Kultur. Ja, wir wurden berufen. Und ja, wir mussten uns anpassen. Aber wir durften auch unsere Kultur ausleben, sofern wir damit die Gefühle der Einheimischen nicht verletzten. Zumeist ging es gut.«
»Willst du jetzt meine Zustimmung oder darf es die Wahrheit sein…«
Die Wahrheit. Gina hatte also die Wahrheit gepachtet.
Isa lächelte unbestimmt, sagte aber im selben Atemzug: »Die heben wir uns für den Moment noch auf. Wenn die Arbeit getan ist, sehen wir weiter.«
Sie schwenkte den Stick, auf dem sie die Layoutvorlage für Ginas Buch vorbereitet hatte. Gina verstand. Ihre Augen signalisierten sogar Zufriedenheit. Über die Fremden verloren sie kein weiteres Wort an diesem Tage und auch später hielten sie sich zurück.
Später auf dem kurzen Weg durch das Haus zurück zu ihrer Wohnung fielen ihr die Gesten wieder ein, die sie bei Gina noch nie gesehen hatte. Sie waren immerhin deutlicher als die Worte.
Warum hatte sie überhaupt mit Gina über die Sache zu reden begonnen? Vielleicht hatte Gary in einem Punkt Recht. Es ging ihr nicht ausschließlich um fremde Hoffnung. Es ging ihr zu einem Teil um ihren eigenen Seelenfrieden, um ihre Selbstbestätigung, ein guter Mensch zu sein.
Zu dieser Zeit war Isa vieles unklar, was Farid und seine Freundin betraf. Unwissenheit konnte den Anschein, den eine Situation hatte, enorm verändern. Schon bald hatte sie etwas bemerkt, was sie nicht gerne preisgab, schon gar nicht vor Gary. Dabei war es etwas, was den gesunden Menschenverstand überhaupt nicht belasten musste, weil es so logisch war wie das Einmaleins: Die Regeln von Farids Leben waren nicht ihre Regeln. Keinesfalls. Was sie dachte, konnte bedeutungslos sein, sie hätte es nicht so genau sagen können. Sie spürte nur, wie etwas jenes Bild zerstörte, von dem sie glaubte, es mache sie mitmenschlich. Niemals könnte sie etwas zwanghaft wollen oder sein. Auch deshalb versuchte sie seit Monaten zu respektieren, was Gary von ihr erwartete: Distanz.
Dagegen aber hatte ein anderer Mensch eine andere Strategie.
Den ganzen Dienstag fiel Regen aus schweren Wolken, die der Wind vom Westen her über das Land trieb. Warum, so dachte Isa, sollte sie sich in die Stadt begeben? Was nicht im Haus war, konnte nicht konsumiert werden. Sie würden nicht verhungern.
Es gab Zeiten, da liebte sie schlechtes Wetter. An diesen Tagen musste sie nicht mit sich hadern, wenn sie sich kaum vom Computer entfernte, genau gesagt, von ihrem Text. Gary quittierte ihren Arbeitseifer stets mit den Worten: »Man kann es auch übertreiben.« Nur wenn er seine Ruhe wollte, galt ihre Abwesenheit nicht als Verstoß gegen die Ehepflicht.
Nur selten verschwendete sie einen Gedanken daran, wie er seinen Job mitunter übertrieb. Vermutlich hatte sie das Toleranz-Gen vererbt bekommen. Vermutlich. Von welchem ihrer Elternteile, könnte sie nicht sagen. Sie kannte ihren Vater nicht, hat ihn nicht mehr kennengelernt. Dennoch sagte unlängst ein Rezensent zu ihr, sie habe ein Talent, das vererbt sein muss. Als er dann fragte, wer von den Eltern es ihr in die Wiege gelegt habe, dachte sie zum ersten Mal darüber nach. Zu ihrem Erstaunen sogar laut.
Ihr Vater war ein musischer Mann, das wusste sie von ihrer Mutter. Blieb die Frage: Warum hat keines ihrer Geschwister einen musischen Beruf ergriffen?
Der Tag war wie geschaffen fürs Schaffen. Das Letzte, worauf sie jetzt Lust hatte, war, über Unergründliches nachzudenken. Das Ergründbare lag in einem Stapel Ausdrucke vor ihr und musste zu einer plausiblen Story verwoben werden. Eine Geschichte aus dem Leben und doch verquickt mit ihren Ängsten, mit ihren Hoffnungen und Wünschen …
Es war das Wesen der Dinge, das sie zu ergründen versuchte, besonders aber das Wesen der Menschen; der schwierigste Teil ihrer Berufung.
Sie schrieb und schrieb und dachte dabei an Gina, die vermutlich verzweifeln würde, wenn sie strikt bei der Wahrheit bleiben müsste und doch einen Spannungsbogen erzeugen oder den narrativen Haken zur richtigen Zeit zu setzen hätte. Wenn alle Strategie versagte, half ihr zumeist, zu philosophieren: Was wäre wenn?
Besonders wichtig war für Isa-Kathrin Benson von jeher die Plausibilität ihrer Werke. Zu oft in manch einem Film — ja, sie schaute durchaus gerne Filme, weil sie daran gute Studien treiben konnte für Plot und Struktur — passierten Dinge, die durch nichts zu erklären waren. Für sie eine Todsünde. Vielleicht hatte ihr Hang zur Plausibilität einen zu großen Anteil an ihren Geschichten, denen Leser wie Professionelle bescheinigten, sie würden wertvolle Themen enthalten. Bisweilen hörte sie Worte wie: sie sollten von viel mehr Menschen gelesen werden. Andererseits hielten sich gerade diejenigen sehr zurück, die daran drehen könnten, weil sie über die nötigen Kanäle verfügten.
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