»Als man mir sagte, Sie sind ein Anwalt der Schwachen, dann war es nicht so, dass ich es nicht geglaubt habe. Jetzt erlebe ich es hautnah… «
Isa versteht den Wink der jungen Frau, endlich zum Thema zurückzukommen. Offenbar gelingst es ihr nicht sehr gut, all das Erlebte in ihrem Kopf zu ordnen und auf ihr eigentliches Ziel auszurichten. Mit Blick auf das kopflose Wesen in Isas Armen beginnt sie sich plötzlich zu interessieren: »Kann man die Angst der Frau ignorieren?« Eine Antwort gibt Isa-Kathrin Benson nicht. Sie hört längst ungewohnte Geräusche im Flur…
Es sind zwei Beamte. Beide in merkwürdig schweren Monturen. Zuerst reden sie mit Sheyla. Isa geht derweil zurück ins Zimmer, weil es ihr Anstand so erfordert. Einer der beiden Männer telefoniert, dann fragt er, ob Sheyla noch ein paar Minuten in Isas Wohnung bleiben darf. Klar kann sie. Auch wenn es einerseits unpassend ist, andererseits auch dem Hausherren nicht gefallen würde.
Es kommen wie aus dem Nichts noch zwei weitere Männer in Overalls im Sturmschritt über den Gang. Sie reden mit den anderen, dann öffnet einer die Tür zu Farids Wohnung, ein anderer drängt Sheyla in Isas Wohnung zurück. Darüber gerät sie in Aufregung. Es gefällt ihr nicht, was gegenüber an Farid Tür vor sich geht. Immer wieder beteuert sie »Nischt Farid. Nischt Farid!« Isa kann sie kaum beruhigen.
Es dauert. Isa kocht für Sheyla Tee und für Jenny Mai noch einmal Kaffee. Dazu holt sie Gebäck aus der Dose. Man sieht es Sheyla an, sie bekommt kaum einen Bissen herunter, nur ihre Augen wandern über die Möbel und die vielen Bücher, die in Doppelreihen die Schränke füllen. Sie war noch niemals in dieser Wohnung. Alles, was sie sieht, lenkt sie vermutlich von ihrer Angst ab.
Als die Männer in den Overalls ihre Arbeit getan haben, gehen sie mit zwei kleinen Plastikbeuteln den Mittelgang entlang zum Aufzug. Einer der beiden anderen erkennt Isas Not. »Keine Gefahr«, winkt er ab, was so viel heißen mag wie: keine Waffe. Was man in den Plastikbeuteln aus der Wohnung mitnimmt, bleibt ungesagt.
Die Journalistin Jenny Mai hält es nicht mehr in der Passivität. Flugs ist sie mitten im Geschehen:
»Darf die Polizei in Abwesenheit des Mieters so einfach…?«, fragt sie. Viele Journalisten stellen solche Fragen aus Gewohnheit, besonders dann, wenn es den anderen in Erklärungsnot bringt.
»In diesem Falle schon«, sagt der Mann, der in seiner Montur schwitzt und von Zeit zu Zeit mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn wischt.
»Wir haben schließlich unsere Erfahrungen …« Mehr sagt er nicht. Der ältere der beiden spricht, ohne seine Lippen zu bewegen: »Keine Angst, nur wegen Verdacht auf Betäubungsmittel.«
Jenny Mai kann nicht ahnen, welches Déjà-vu-Erlebnis Isa bei diesem Wort durch Mark und Bein fährt…
Als Sheyla mit den beiden Polizisten das Haus verlässt, verspricht Isa, Acht zu geben auf sich und auf das, was Farid betrifft. Wie könnte sie diese Worte ernst meinen?
Als wieder Ruhe einkehrt, spürt sie, in den letzten zwei Stunden viel zu flach geatmet zu haben. Das regelt sich wieder. Nicht auszudenken, Sheyla hätte einen ernst zu nehmenden Grund gehabt, der allen mehr genommen hätte, als nur den Atem …
An Isa-Kathrin Benson kam man nicht so leicht heran. Der Sicherheitsdienst hielt mich auf. Nicht wegen der Autorin, die ich, Jenny Mai, zu interviewen hatte. Er hielt alle Menschen auf, die nicht in diesen Wohnblock gehörten, der die Menschen in sich aufsaugt wie ein hungriger Schlund. Mehr Menschen als in einem Dorf wohnen hier. In einem Dorf würde jeder jeden kennen. Das war hier illusorisch, nicht erst, seit die Zeit so viele Fremde zu uns gespült hat.
Die Sprechanlage surrte. Dann hörte ich die Stimme der Frau, die ich nur von Lesungen und Talks kannte. Was galt der berufliche Blick gegen ein Interview im ganz intimen Umfeld? Das Kultur-Magazin der Stadt hatte sich zur Aufgabe gemacht, auch die regionale Literatur wieder stärker in den Fokus rückte.
Hoch oben wohnte sie und gab mir durch die Sprechanlage eine klare Wegweisung.
Schon von ihrer Tür aus schaute sie mir über den langen Mittelgang entgegen. Als ich näher kam, suchte ich nach ein paar persönlichen Worten, ehe es zur Sache gehen sollte: »Ich hatte Sie mir älter vorgestellt.«
»Dann kommen Sie morgen gleich nach dem Aufstehe nochmal wieder«, scherzte Isa-Kathrin Benson. Wir lachten und das Eis war sofort gebrochen. »Das Altern ist eine der Gerechtigkeiten des Lebens. Sie kommen auch noch dahin«, sagte sie schmunzelnd. »Keine Angst. Älter zu werden kann durchaus bequem sein.«
Während ich über die Schwelle stieg, bemühte ich mich, keinen abschätzenden Blick auf die kleinen Anzeichen ihres Alters zuzulassen.
»Heißt das, man muss sich im Alter keine Mühe mehr geben?«
»Im Gegenteil. Die Eitelkeit altert leider nicht mit, sie ändert sich nur in der Richtung.«
Ich dachte an Marie Ebner-Eschenbach: Jung zu sein ist schön, alt ist bequem. Laut sagte ich: »Wenn das so ist, kann das Alter nur von Vorteil sein.«
»Man muss zumindest keine Meinung mehr fürchten. Keine über sich und keine, die man von sich gibt.«
Wortlos nahm sie meine Jacke und trug sie zur Garderobe.
»Mein Opa sagte immer: Alter schützt vor Torheit nicht.« Ich spürte an ihrem Gesicht: Das war zu platt für eine, die sich zu artikulieren verstand.
»Das ist nicht meine Version. Für manche Torheit ist man nur zu schwach geworden, für andere zu klug.«
Von Torheit spürte ich bei Isa Kathrin Benson nichts. Sie schien mir wenig eitel, dafür freundlich, zurückhaltend, bescheiden.
Ihre Stimme klang sanft und doch nicht kraftlos. Sie trug hellgraue Jeans und eine weiße Bluse unter dem hellgrauen Kaschmirpullover. Edel, aber nicht over-dressed , wie man sagt. Ihr Haar umspielte das faltenlose Gesicht. Es schimmerte in einem Braun, dem ein leichtes Violett untergemischt war: Frisch. Modern.
Während sie Kaffee einschenkte, bestaunte ich das Bücherregal. Dürrenmatt, Feuchtwanger, Seghers, Simmel, Strittmatter und «unser» Juri Koch standen aufgereiht neben vielen anderen deutschsprachigen Literaten. Im Fach darunter die Wälzer von den Franzosen: Zola, Balzac, Dumas und Stendhal.
Bescheidener platziert waren mehr als zwanzig Bände aus Isa-Kathrin Bensons eigener Feder, wie man sagt.
Sie schreibe nicht mit der Hand, erwiderte sie. Das könne sie nicht. Der Computer sei ihre Prothese für das, was manche Leute Talent nennen. Sie nenne es Fleiß und die Gabe, sich selbst infrage zu stellen — immer wieder, auch wenn es weh tut. Wenn sie den Eindruck habe, mit ihrer Arbeit vollkommen zufrieden zu sein, verwerfe sie das Werk. Oder sie lässt es jemanden lesen, der ihr nicht gutgesinnt ist, dem ein Verriss das Ego stärkt. Daran könne sie sich hochhangeln.
Und dann stand sie selbst vor dem Bücherschrank und strich mit der Rückseite des Zeigefingers behutsam über die Wölbung ihrer Schätze.
Die Franzosen stünden nur in ihrem Schrank, weil man sie auch in der DDR zu kaufen bekam. Damals, als die Zensur die Bücherregale beherrschte und somit den Horizont der Menschen. Dennoch gebe es auch gute DDR-Literaten. Seghers sei noch immer ihr Vorbild. Sie habe es mit ihrem siebten Kreuz immerhin geschafft, das Kind Isa aus ärmstem Haus zum Lesen zu begeistern. Die Mutter habe nicht das Geld gehabt, um die Schulliteratur anzuschaffen. Zum Glück habe es in ihrem Dorf eine flexible Bibliothek gegeben, die zweimal in der Woche die Ausleihe betrieb. Kostenlos, schob sie mit Nachdruck hinterher, als wollte sie das Gute betonen, das zu schnell vergessen worden ist.
Das Paar wohnte geschmackvoll, aber auf Repräsentation ist die Wohnung nicht ausgerichtet. Alles war geradlinig und sachlich, ohne jeden Schnickschnack.
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