Auf der engen Rolltreppe nach unten wurde sie von eiligen Einheimischen angerempelt, unsanft beiseitegeschoben oder als wäre es unvermeidbar, mit Taschen und Rucksäcken attackiert.
Es zog Isa nach Hause, weil sie spürte, dass sie Kopfschmerzen bekam. Nur noch rasch den Einkauf erledigen.
Gleich hinter der Ladenschranke am Brotregal kam ihr ein merkwürdiger Gedanke. Sie stand vor dem Angebot unzähliger Brotsorten zu einer Zeit, in der «am Ende der Welt» — das sie hautnah kannte — manch einer kaum ein Körnchen Hirse in den Topf bekam.
Sie fröstelte, und das lag nicht an der Raumtemperatur des Ladens.
Zu dieser Zeit hatte sich nicht im Entferntesten abgezeichnet, was ihr Denken bald mehr als gewollt besetzen sollte. Manch einer ihrer Leser bezeichnete ihre Art zu schreiben als großes Mitgefühl. Das wollte sie nicht. Wenn jeder mitdenken würde, wäre die Welt schon ein bisschen besser. Sie alle hatten es gut getroffen auf diesem Teil der Welt: Satt zu essen, warme Kleidung, ausreichend Wasser für jeden Luxus, Wohnungen ohne Mangel in Städten mit gutem Flair.
Sie kaufte frisches Gemüse, verschiedene Sorten Käse, etwas frischen Hack und Joghurt für den Nachtisch, auf den Gary keinen Tag verzichtete. Außerhalb der Kasse verstaute sie alles in einen Nylon-Beutel. An jeder ihrer Handtaschen verankert sie einen solchen mit einem Karabinerhaken, um niemals zu einer Plastiktüte greifen zu müssen.
Einen kurzen Moment nur traf sie ein kleiner Stich. Es war das Gesetz der Hausfrau, dem sie ewig gefolgt war und das sie nun sträflich verletzt hatte. Sie kaufte gewöhnlich ein, was Gary schmeckte. Warum hatte sie nun verschiedene Sorten Käse im Korb? Gary aß so gut wie keinen Käse. Fisch in allen Variationen, im Gegensatz zu ihr selbst — sofern sie den Fisch nicht eigenhändig frisch gebraten hatte.
Warum so viel Gemüse, und erst recht so viel Käse?
Hatte sie das junge Paar zum Kauf animiert, das lange suchend vor der riesigen Käseauswahl stand, verschiedene Sorten prüfte und doch zögerlich weiterging? Es waren Fremde, ohne Frage Araber, Inder oder Türken. Vielleicht Studenten von der Universität? Denen aber hätte sie zugetraut, mit den sparsamen Aufschriften klarzukommen.
Als ob das Leben an diesem Tag ganz neue Geschütze auffuhr, kehrte sie nicht um. Fisch war noch als Konserve im Haus und das frische Hack war allein Gary zuliebe im Korb gelandet.
Im Weitergehen überlegte sie, ob sie jemals ihre eigenen Wünsche in den Vordergrund geschoben hatte. Erinnern konnte sie sich nicht. Aber sie kannte das Leben: Das eigene Tun hinterfragt man nicht.
Wenn sie Gary heute von den neuen Mietern erzählte, würde er sofort skeptisch werden. Er würde sich seiner Standardmahnung bedienen, bestenfalls würde er sie fragen, was sie getan habe. »Nichts«, würde sie antworten. Es war ja nur eine höfliche Floskel, kein Versprechen zur ständigen Hilfe oder eine Einladung zu irgendwas.
Während sie schon in der Tasche nach dem Wohnungsschlüssel kramte, fragte sie sich, ob ihr Spaziergang an diesem Tage anders verlaufen wäre, hätte es diese zufällige und überdies profane Verkettung von Blicken und Gesten auf dem heimischen Flur nicht gegeben.
Isa war gerade auf dem Weg zu Gina, als draußen die Zwischentür zum Nordflügel dumpf ins Schloss fiel. Einen Moment lang verharrte sie noch hinter der Tür ihrer Wohnung. Es war eine dumme Angewohnheit. Sie war nicht menschenscheu und hatte auch kein anderes Problem mit Kontakten jeder Art. Diese Marotte stammte von Gary. Die Jahre mit ihm hatten auf sie abgefärbt. Ungewollt. Sie wusste allerdings, dass sie mit dieser Art Zurückhaltung nicht allein war auf der Welt. Gina hatte unlängst eine ähnliche Episode geschildert, ohne damit etwas zu bezwecken.
Gina war Buch-Autorin wie sie auch, schrieb aber über völlig andere Themen und schöpfte nie aus dem wahren Leben. Alles bei Gina kam aus ihrer Fantasie. Dicke Freundinnen wollte Isa sie beide nicht nennen, dafür waren ihre Kontakte zu spontan; oder zu selten? Wenn Isa über Gina sprach, nannte sie sie stets eine Schreib-Kollegin, was sie de facto ja war. Nichts weiter. Nur selten sprachen sie über sehr private Dinge. Aber es hatte auch keine je bei der anderen einen literarischen Rat gesucht. Ausgenommen davon war der Umstand, wie sie sich kennengelernt hatten. Gina hatte bei Isa angerufen, weil sie einen Verlag für ihren ersten Roman suchte. Isa war zu dieser Zeit schon stadtbekannt, und da lag die Anfrage nahe. Dass sie beide im selben Block wohnten, wussten sie auch lange danach noch gar nicht.
An diesem Tag sollte Isa Gina helfen, die Datei für das nächste Buch zu layouten. Gina hatte sich nach dem Verlagskonkurs ebenso wie Isa dazu entschlossen, die Veröffentlichung in die eigene Hand zu nehmen. Neben dem Schreiben kann man seit ein paar Jahren auch all die Dinge selbst vollziehen, die sich ein Verlag sehr gut bezahlen ließ. Satz, Layout, Titelbild und Covergestaltung, bis hin zum Marketing. Das spart Frust und Geld. Sehr schnell hatte sich Gina Isas Devise zu eigen gemacht: Schreiben ist Lust, veröffentlichen ist Frust. Seit ein paar Jahren hatte Isa große Genugtuung verspürt, wenn sie eines ihrer Werke aus eigener Kraft ins mediale Licht der Welt hob. Sorgen machten ihr nur noch das Marketing. Ohne Öffentlichkeit bekam man kein Buch an den Mann, bei eigenen Lesungen ausgenommen. Dort aber wollten die Menschen mehr und mehr unterhalten werden und neben dem Eintritt möglichst kein weiteres Geld ausgeben.
Mit ihren Gedanken bei Gina, öffnete sie endlich ihre Wohnungstür. Noch niemals war sie in Ginas Wohnung, wusste nicht einmal die genaue Wohnungsnummer, obwohl Gina nur eine Etage tiefer im Nordflügel wohnte. Der hatte einen separaten Eingang, wie jeder Flügel des Blockes. Also sah man sich selten, zudem war Isa keine, die gerne in das intime Umfeld anderer Menschen eindrang.
Vor der Nachbarstür im Gang stand ein Mann, eingehüllt in eine warme Jacke, die Wollmütze tief in die Stirn gezogen und winterliche, vor Nässe triefende Schuhe an den Füßen.
Es konnte nur einer der neuen Mieter sein, den sie von der ersten Begegnung ziemlich anders — adretter? — in Erinnerung hatte.
Ohne zu wissen warum, hatte sie damit gerechnet, dass seine Tür sich rasch hinter ihm schloss. Das war ein Irrtum. Er grüßte sie, wie sie ihn zuvor — schließlich machte sie in diesem Haus beim Grüßen keinen Unterschied, ob Mann oder Frau, ob jung oder alt:
»Hallo. Isch bin Farid. Isch hier wohnen. Aus Afghanistan. Isch haben Freundin.«
So, so. Freundin also. Sie wollte höflich etwas dazu sagen, aber sie konnte nur staunen. Ob sie über ihn oder über sich selbst und ihre falsche Vermutung staunte, war kein Grund, um in diesem Moment darüber nachzudenken. Vielmehr bewegte sie etwas anderes. Diese «Madam» war also seine Freundin? Gesehen hatte Isa die unscheinbare Frau in ihrem Hidschab nie wieder. Vermutlich gab die Wohnungsverwaltung für unverheiratete Ausländer kein Okay. Es war also zu erwarten, dass die Frau illegal hier einwohnte und sich deshalb nicht oft blicken ließ.
Ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln. Sie wünschte ihm eine gute Zeit und man werde sich ja jetzt oft begegnen.
»Ja«, sagte er, aber es klang dahin gehaucht wie: »jea«.
Dann ging er hinein und sie selbst schlüpfte durch die Zwischentür, wo gleich in der ersten Wohnung auf dem ebenso langen Gang des Nordflügels seit Kurzem ein anderer Ausländer wohnte, über den man sagte, er sei ebenfalls Afghane. Vielleicht waren die beiden befreundet und einer hat den andern zu dieser Wohnung animiert. Hinter dessen Tür tönte oft laute Musik bis in den Gang. Sie hörte sie bisweilen, wenn sie an der Tür vorbeischritt. Dennoch. Bei ihrem Nachbarn, der nun auch einen Namen besaß, hatte sie noch nie einen Mucks gehört. Kein Wunder, dass sie lange Zeit glaubte, die Wohnung sei noch gar nicht wiedervermietet. Zwar gab es einen Umstand, den eine Hausfrau hätte anders deuten können, aber das hatte sie nicht. Sie kümmerte sich nicht um die Marotten anderer Leute. Aber jetzt dachte sie daran: Immerhin hatte schon am selben Tag, als sie die jungen Leute zum ersten Mal gesehen hatte, ein Fußabtreter vor der Tür gelegen. Für deutsche Verhältnisse ein sicheres Indiz für Sauberkeit.
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