»Man muss leben können und arbeiten, mehr braucht es nicht«, sagte sie fast beschämt, als sie meinem Blick nachspürte. »Es gibt Menschen auf dieser Welt, die all die Annehmlichkeiten, die wir uns vehement als unser minimales Recht einfordern, nie im Leben kennenlernen werden.«
»Ein Satz aus einem Ihrer Bücher. Ich finde so manches von Ihnen sehr mutig…«
Ihr gütiger Blick beschämte jetzt mich. Ich musste die Sache abwarten und fragte, was es auf sich hat, wenn man sagt, sie sei ein Sprachrohr der Schwachen.
»Bei meiner Biografie?«
Sie gab mir das Gefühl zu glauben, ich würde ihre Biografie kennen. Aber ich kannte, um ehrlich zu sein, allenfalls ihre Bibliografie, die mir inzwischen vollständig aus dem Bücherschrank entgegen schaute.
»Wer das Leben mit seinen Facetten kennt und seine Wurzeln nicht verleugnet…« Sie zog die schmalen Schultern an. Ihr kurzer Blick prüfte in meinem Gesicht, was ich zu hören gedacht hatte. Ich nickte, während ich meinen Notizblock aus der Tasche fischte und ihn auf meinen Knien bereithielt.
»Mein Leben stand von Anfang an unter keinem guten Stern. Selbst der liebe Gott hatte kein Erbarmen gezeigt. Ich habe vier Geschwister und mein Vater war im Krieg geblieben. Ohne die Prägung durch das Leben verläuft vieles anders – glaube ich.«
Was hatte ich erwartet? In dem Moment war mir nur klar: Wer mit dem, was er schreibt, als Sprachrohr der Schwachen gilt, dessen Wurzeln saugten vermutlich nie am Wohlstand.
Isa-Kathrin Benson strich ein paar Haare aus ihrer Stirn. Es war sehr still in diesem riesigen Haus, in dieser Wohnung, die sehr viel Ruhe ausstrahlte, dennoch keinesfalls lauschig wirkte.
Meine Vorstellung von dem, was ich ursächlich hören wollte, rückte von mir ab und blieb doch nah bei mir. Nah, weil jedes Wort mit der Ursache, mit dem Wesen verbunden war, das ich hinter den Geschichten zu ergründen versuchte. Auftragsgemäß.
Durch mein Fragen ermuntert erzählte sie von ihrem Werden in der schwersten Zeit, die es je gab auf deutschem Boden. Von fünf vaterlosen Kindern und einer geplagten Mutter.
Als sie endete, zog sie wieder die Schultern hoch, als wollte sie sagen: Ich hab ΄s Ihnen ja gesagt.
Mir war klar, dass ein solcher Mensch die Schattenseiten des Lebens nachvollziehbar beschreiben kann.
»Nicht alles, was mich bewegt, hat mit Armut zu tun. Es sind die Armuts zeugnisse unserer Zeit, die mich rastlos machen.«
Jetzt wollte sie vermutlich nicht deutlicher werden. Ihre zuckenden Lippen wurden von der zierlichen Tasse verborgen, nach der sie gegriffen hatte. Der Moment verflog. Einmal mehr fiel mir auf, welche Würde in der schmalen Gestalt lag, deren Hände keine Sekunde ruhten.
Unvermittelt hob sie eine Hand. Ihre Augen huschten umher. Nicht lange, da läutete ihre Klingel. Was dann passierte, konnte nicht als Wunsch, nicht als Hoffnung, wohl aber in der Kategorie Angst verbucht werden. Solange sie zur Tür ging, eilten meine Gedanken durch den Tag:
Ich erinnerte mich an unser Telefonat. Auf meine Frage hin sagte sie — und es klang in meinen Ohren vorwurfsvoll: »Mir geht es selten um Kritik am gesellschaftlichen Thema. Ich möchte erzählen, welche Wirkung es auf einzelne Menschen, auf deren Schicksale hat. Wenn man dabei Konflikte schafft, ist das allerdings gewollt. «
Wie sich viel später herausstellen sollte, wurde ich nach dem Läuten an der Tür Augen- und Ohrenzeuge eines Konfliktes, den wir vermutlich — wäre das Leben anders verlaufen — aus Isa-Kathrin Bensons Feder erfahren hätten, irgendwann ganz bestimmt.
Nach dem Zwischenfall mit der fremden Frau, der auch mir Angst gemacht hatte, und an zwei weiteren Tagen danach erfuhr ich von Isa-Kathrin Benson jenen Bruchteil ihres Lebens, von dem ich keine Ahnung hatte und dem die Autorin selbst nicht die Bedeutung zugemessen hatte, die sie noch für sie bekommen sollte.
Ich werde im Weiteren also nicht über das literarische Schaffen der Isa-Kathrin Benson schreiben. Ich werde über eine Frau schreiben, die über ihr eigenes Denken und Handeln haderte, vieles unterschätzt hat, die aber mit großem Herzen gegen den Strom schwamm, bis an die Ufer ihres Gewissens. Eine Frau, die sich bemühte, immer Mensch zu sein, notfalls auf eigene Gefahr.
Irgendwann merkte Isa-Kathrin Benson, dass es ihr nicht gelang, auch nur einen Satz gründlich zu durchdenken, bevor sie ihn aufschrieb. Kein guter Start in den aschgrauen Vormittag.
Gegen elf Uhr gab sie auf. Es war besser, eine Stunde an die frische Luft zu gehen und anschließend den Einkauf zu erledigen. Vielleicht würde sie sich auch mit irgendjemand auf einen Kaffee an ein ruhiges Plätzchen setzen. Damit hatte sie in den letzten Jahren kein Problem und sie konnte darauf wetten: Irgendjemanden traf sie immer. Viel zu oft musste sie eine spontane Einladung ablehnen, weil sie Sinnvolleres vorhatte. Was ist schon sinnvoll? Das Schreiben ist zumindest nicht wichtiger als die Menschen. Das hat sie stets bewiesen, wenn ihre Enkeltochter Laura in den Ferien zu Besuch kam. Gary wäre niemals auf die Idee gekommen, einen seiner Termine sausen zu lassen. Dafür fühlte er sich zu wichtig. Für Isa gab es kein Pardon. Wenn das Kind da war, hat sie nicht einen Finger auf die Tastatur gesetzt. Manchmal war sie deswegen auf Gary ärgerlich. Sie wusste schließlich, wie gerne er das Oberhaupt spielte. Manchmal tat er sich so hervor, dass es sie schmerzte, wenn er sich heimlich mit dem Kind davonschlich und ein Geschenk überreichte, das sie ganz alleine beschafft und liebevoll verpackt hatte.
Es machte leider keinen Sinn, seine Argumente als egoistisch zu benennen. Für Gary gab es nur eine Sicht auf die Dinge – seine. Wie kann man das einem Menschen übel nehmen? Jeder ist einmal von sich überzeugt. Wenn es aber soweit ging wie am letzten Abend, dass er ihr vorwarf, immer Recht haben zu wollen, weil sie anderer Meinung war, dann ging ihr die eigene Toleranz entschieden zu weit.
Dieser kleine Wortwechsel drückte noch immer zwischen ihren Rippen. Dafür gab sie sich selbst die Schuld, niemanden sonst. Wer zu lange erträgt, verwirkt sein Recht, aufzubegehren.
Solange sie über sich und die Dinge nachdachte, die sie nie im Leben geändert hatte, schlüpfte sie mit grantigen Bewegungen in ihre Jeans, zog einen frischen Pullover über und griff nach der Steppjacke. Es war schon empfindlich kalt, und in der Stadt zog es heftig um manche Ecken.
Wenn Laura noch jünger wäre und öfter käme, wüsste sie, was sie jetzt besorgen würde. Zum Glück hat sie die Zeit mit der Enkelin genossen und sie weiß, dass das Mädchen nur deshalb ebenso tief in ihrem Herzen verwurzelt ist wie Tochter Mia. Die wenige Zeit miteinander genutzt zu haben, die ihnen bei der Entfernung der Wohnorte möglich war, war ihr sehr wertvoll. Jetzt war das Mädchen den Kinderschuhen entwachsen und hatte andere Vorlieben. Das war der Lauf der Zeit.
Sie hängte ihre Tasche über die Schulter und nahm das Schlüsselbund in die Hand. Wie gewöhnlich schaute Isa zuerst durch den Spion. Wenn die Putzkolonne den Fußboden bearbeitete, wollte sie warten. Sobald die Frauen mit ihren Wischmobs an ihrer Tür vorbei sein würden, könnte sie allerdings über den Flur des angrenzenden Nordflügels das Haus verlassen, ohne deren Arbeit zu stören.
Es war alles ruhig. Umso mehr erschrak sie, als sie die Tür hinter sich zuzog und direkt auf eine junge Frau fremder Herkunft stieß. Sie stand vor der Wohnung schräg gegenüber.
Die letzte Nachbarin, alleinstehend, introvertiert und wenig gesprächig, mit ebenso scheuer Katze, war unlängst klanglos ausgezogen. Die Zwei-Zimmer-Wohnung stand jetzt leer. Vielleicht, so dachte Isa, ist heute einer der Besichtigungstermine.
Obwohl die Fremde sofort lächelte, sah sie scheu aus, dennoch anders als die bisherige Nachbarin. Sie schaute nicht weg, aber sie hatte einen seltsam demütigen Blick.
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