Sheyla hat offenbar mehr verstanden als Isa glaubt. Ihre krächzenden Worte klingen zwar seltsam, aber umso heftiger von Abschiebung, von Unrecht ... und Rache ? Was will Sheyla damit sagen?
»Stopp Sheyla. Stopp…!«
Sheyla erschrickt vor der Wucht in Isas Worten. Sie fasst sich und versucht, deutlicher zu sprechen. Husten überkommt sie, ihre Kehle ist vermutlich trocken. Isa besorgt blitzschnell ein Glas Wasser.
»Du fort aus Haus…«, sagt Sheyla heiser, dabei strömen Tränen über die Wangen und verfangen sich zwischen Kinn und dem Kopftuch, das man Hidschab nennt.
»Ich kann jetzt nirgendwohin mitkommen. Ich habe … du siehst doch …« Isa deutet sparsam zum Wohnzimmer, wo die Journalistin Jenny Mai sitzt und darauf wartet, sich wieder auf die Hauptperson für ihre Reportage zu konzentrieren.
»Du musst!« schreit Sheyla wie von Sinnen.
»Sheyla!«, sagt Isa mit Nachdruck. Sie nimmt ihr das Glas aus der Hand, aus dem das Wasser heraus geschwappt ist, nun vom Parka herunter läuft und den Teppich dunkel färbt. »Ich kann nicht. Ich habe gerade ein Interview…«
Sheyla stößt Isa beiseite und schreit aus Leibeskräften: »Dann du tot. Farid sagt, Männer wollen…«, eine Handbewegung deutet an, als will jemand schießen oder als explodiere etwas. Isa schüttelt verständnislos ihren Kopf. Sheylas Augen werden weit: »…weil Deutsche …ungerecht… wollen abschieben. Du mitkommen … oder Polizei…« Ihre Hand fährt beim letzten Wort deutlich zum Ohr.
Keiner hat je über Gefahren von Menschen berichtet, deren unsägliche Flucht die Nerven krank gemacht, die Seelen ruiniert hat. Keiner? Doch! Isa weiß, Gary hatte sie sogar gewarnt. Aber Gary hatte nicht an so etwas gedacht. Er meinte die Last des gewöhnlichen Lebens, nicht die Last der Angst um das Leben. Soweit wäre nicht einmal Gary gegangen.
Wenn Sheylas Nerven nicht krank sind, was sie bisher nicht feststellen konnte, dann muss ihr jetzt etwas einfallen.
Nach einem kurzen Blick auf die wartende Journalistin und einer bedauernden Geste ins Nichts greift Isa zum Telefon. Nicht den Notruf wählt sie, aber die Nummer, die ihr einst der Wachschutz vom Hause gegeben hatte, als Sheyla mal wieder weinend vor ihrer Tür stand und bat, Isa möge die Polizei rufen, weil sie glaubte, mit Farid sei etwas Schreckliches passiert.
Als Isa hört, wie sich am anderen Ende jemand meldet, drückt sie Sheyla den Hörer in die Hand und bedeutet mit einer Geste, sie möge sich erklären. Doch daraus wird nichts. Das Weinen ist stärker, die merkwürdig betonten Worte klingen jetzt unaussprechlich. Sheyla reicht den Hörer zurück an Isa, wortlos, beinahe wütend.
»Entschuldigen Sie«, sagt Isa ins Nichts. »Hier spricht Isa-Kathrin Benson. Bei mir ist Sheyla, die tschetschenische Freundin meines Nachbarn Farid. Sie spricht ziemlich konfus von Farids Rache und von — offenbar — einer Gefahr. Ich kann sie nicht beruhigen…«
»Augenblick«, sagt die Stimme. Man hört das Tippen auf einer Tastatur, schweren Atem und den gedämpfte Ton zu einer anderen Person. In Isas Mund sammelt sich klebriger Speichel. Sie spürt, wie sich zwischen ihre Augenbrauen eine senkrechte Furche in die Stirn gräbt, wie ihre Hände zucken, wie ihr Atem schneller geht.
Nach einer langen Minute ist die Stimme am anderen Ende wieder klar; sie spricht die genaue Adresse und den vollständigen Namen von Farid, was für Isa schier unmöglich erscheint. Sie hatte sich noch gar nicht genau erklärt. Nachdem sie den Standort bestätigt hat, sagt die Stimme: »Bleiben Sie wo Sie sind. Und gehen Sie oder die Frau keinesfalls zu dem Verdächtigen. Wir kommen…«
…Sheylas Arme fallen herab wie die einer Marionette, wenn der Spieler die Fäden lockert. Isa möchte ihr glauben, aber keinesfalls dem Sinn ihrer Worte.
Sheyla und Farid kommen aus verschiedenen Welten und trafen doch mit gleicher Hoffnung und gleichem Ziel aufeinander. Er kommt vom Hindukusch, sie vom Nordkaukasus, wo man seit hundert Jahren sowjetisch dachte und russisch sprach, wo die Alten sowjetisch sozialisiert sind und die Jungen nach dem Verfall der Sowjetmacht auch den Islam für sich entdeckt haben. Dort, wo Sheyla herkommt, tobte derselbe grässliche Krieg wie am Hindukusch, wo man sich frei machen will vom Terror der Taliban. In Tschetschenien wollte sich das Volk frei machen von der russischen Vorherrschaft. Kriege sind immer Glaubenskriege, ob um verschiedene Weltanschauungen oder verschiedene Götter.
…Isa hält Sheyla fest umschlungen. Die junge Frau atmet jetzt normal. Isa glaubt, ihr ist die Absurdität ihres Handelns nach dem Anruf endlich bewusst geworden. Sie rückt ihr Kopftuch gerade, das bei der hilflosen Umklammerung ein wenig verrutscht ist und etwas von ihrem dunklen Haar freigibt. Ein erster Funken Hoffnung, obwohl Isa ahnt, wie die Sache zwischen Farid und Sheyla abgelaufen sein kann. Sheyla und Farid haben ein gemeinsames Kind. Aber wäre das nicht Grund genug, friedlich zu sein?
Isa spürt, wie Sheyla einen Schrei herunter schluckt. Ihr Körper zuckt, aber sie ergibt sich ihrer Lage.
War das Kind für Farid nur der Grund, um hier bleiben zu dürfen?
Die Frage ist berechtigt. Es gibt Berichte über Schicksale aus fernen Welten, die solche Machenschaften verurteilen. Sie hat schon viel recherchiert und weiß eines ganz bestimmt: Die Leute dieser Stadt verteufeln nicht die Schutzsuchenden. Sie verteufeln so manche Raffinesse. Und die vielen arbeitsfähigen aber herumlungernden Männer stehen in offener Kritik. Farid gehört ganz bestimmt dazu.
Isa zieht die Schultern an. Sie kann manch eine deutsche Mutter verstehen, die ihren Sohn in einen fernen Krieg verabschieden musste, wenn zugleich die jungen kräftigen Männer aus einem umkämpften Land im fremden, aber sicheren Nest von Mama Angela Merkel Schutz suchen. Gary nennt es: Drücken vor der Verantwortung. Er findet so manchen Fluchtgrund hinterhältig. Und doch ist das nur die halbe Wahrheit. Offiziell wird die Meinung vertreten, Afghanistan kann noch nicht selbst für seine Sicherheit einstehen, es brauche Geduld und Unterstützung, um das Erreichte langfristig zu sichern. Die Hilfe der Welt ist damit allemal verständlich. Warum aber stuft man dieses Land als sicher ein, in das bedenkenlos abgeschoben wird?
Stille. Weder Sheyla sagt jetzt etwas, noch will Isa ihre Ansicht über die unbeherrschte Welt allzu deutlich machen.
Die junge Journalistin sitzt brav im Sessel und fährt mit der Hand durch ihr Haar.
»Was wird jetzt aus unserem Termin? Ich habe Deadline am Montag, und das hier wird nicht nur eine Kolumne. Es wird ein Profil.«
Isa versteht. An einen Bericht über sich selbst denkt sie zwar nicht sehr gerne, aber immerhin hätte Jenny Mai mehr Anrecht auf ihre Zeit als Sheyla.
Ungehalten scheint Jenny Mai wegen der Störung nicht zu sein, eher hellwach. Ein solches Ereignis spiegelt das Leben live. Stoff für eine ungeplante Story?
»Was würden Sie an meiner Stelle tun?« Isa will die Journalistin nicht provozieren. Sie kann auch Sheyla nicht einfach ignorieren. »Ich habe immer geholfen wo ich konnte.« Isa zieht ihren Kopf zu Sheyla hin, während ihr vermutlich verschiedene Szenarien durch den Kopf gehen. »Sie würde nicht verstehen, wenn ich sie ignorier…«
Es ist zu erwarten, dass Jenny Mai nicht so schnell klein beigibt. Aber die Genugtuung, als Unterlegene ihr Vorhaben abzubrechen, überlässt sie keinem. Nicht Isa und erst recht nicht Sheyla.
»Ist doch gut, wenn Sie sich nicht wegducken.« sie zögert vor den nächsten, wahrscheinlich für den Fortgang ihres Vorhaben wichtigeren Worten: »Ihre Bücher schöpfen nun mal aus diesen Begebenheiten. Grund genug, dass man Sie auserwählt hat für das Profil auf der Literaturseite. «
Isa erwidert nichts.
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