„Stimmt das? Kannst du verstehen, was wir sprechen?“ Dann, als er Waldas ratlosen Blick bemerkte, doppelte er nach: „Du verstehen?“ Dabei zeigte er auf seinen Mund und ahmte Sprechbewegungen nach. Jetzt erhellte sich Waldas Gesicht: „Noi, nit vaschtah vell. Aba i wull lena.“
Karos Stirn legte sich in Falten, dann strahlte er. “Du verstehst nicht viel, aber du willst lernen”, sagte er.
Nala ging nach nebenan und überliess die beiden sich selbst. Schon bald erfüllte der verführerische Duft von Kaninchen mit Schmorgemüse die Hütte.
Karo setzte sich auf den Rand des Bettes und begann, auf Dinge im Raum und vor dem Fenster zu zeigen und sie beim Namen zu nennen. Walda stieg auf das Spiel ein, benannte die Gegenstände in seiner eigenen Sprache und versuchte, die Aussprache Karos nachzuahmen. Mit jedem Begriff, den sie entschlüsselten, wurde klarer, dass ihre Sprachen verwandt waren. Nicht wie Brüder, dafür waren die Unterschiede doch zu gross, aber wie Cousins. Wenn man sich anstrengte, dann waren die gemeinsamen Vorfahren klar zu erkennen.
Doch Walda war nur halb bei der Sache. Zunächst schob Karo dies auf die Erschöpfung oder mangelndes Interesse. Dann realisierte er, dass eine tiefe Traurigkeit Waldas Gemüt überschattete.
Schuldbewusst hielt er inne. Sein Gegenüber musste Schreckliches erlebt haben und hatte wohl andere Sorgen, als alberne Sprachspielchen zu spielen.
In diesem Moment kam Nala zurück. Ihr Gesicht war ernst, als sie sich neben dem Bett niederliess. „Du musst uns erzählen, was passiert ist“, sagte sie. „Wir müssen wissen, ob auch unser Dorf gefährdet ist.“
Walda sah sie verständnislos an. Sie deutete auf sein verletztes Bein und fragte: „Wer hat das gemacht?“
„Mann“, antwortete er und suchte nach Worten. „Nicht Freund.“
„Ein Feind? Jemand aus deinem Stamm?“ Und dann, als er sie ratlos ansah: „Jemand aus deinem Dorf?“
„Nein.“ Seine Stirn legte sich in Falten, und er dachte angestrengt nach. „Min Dorf … äh …“ Er deutete mit den Fingern auf dem Bett einen gehenden Menschen an.
„Gehen. Es ging weg?“
„Ja, ja! Kalt, Hunger. Gehen viele Monde. Zu Sonne.“
Karo blickte zu Nala, die grimmig nickte. Es kam ihm vor, als sei Walda ein Gesandter aus ihrer eigenen Zukunft.
„Und dann?“, drängte Nala, „was geschah dann?“
„Männer mit …“ Ihm fehlten die Worte, aber seine Gebärden waren unmissverständlich. Sie waren mit Pferden gekommen und wie ein Sturm aus dem Nichts über Waldas Leute hergefallen.
„Wer waren die Leute? Ein benachbarter Stamm? Lagt ihr mit ihnen im Krieg?“
Walda blickte sie verständnislos an. Ein feuchter Glanz überzog seine Augen.
„Krieg? Anderes Dorf?“
„Noi, i ha net kannt det Leit. Se san kumm us de Forst. Horrible Gselln … Enfach us de nüt, met Gäul, hond net gret, nüt wulln, nur tedä, tedä, tedä! …“ Die letzten Worte schrie er regelrecht hinaus, und Tränen schossen ihm in die Augen. Karo brauchte einen Moment, bis er verstand, dann umklammerte eine kalte Hand sein Herz: Die Fremden waren gekommen, um zu töten.
„Langsam, langsam“, unterbrach ihn Nala, legte ihre Hände auf seine Brust und wartete, bis sich seine Atmung wieder beruhigt hatte. „Du musst langsam sprechen, auch wenn es dir schwerfällt.“ Sie hielt einen Augenblick inne und fuhr dann fort: „ Diese … Gselln, wo sind sie? Kommen sie hierher?“
Walda schüttelte den Kopf, und es war nicht klar, ob er damit zum Ausdruck bringen wollte, dass ihnen hier keine Gefahr drohte oder dass er die Frage nicht verstanden hatte. Karo war kurz vor dem Verzweifeln. In diesem Tempo würden sie in hundert Jahren nicht herausfinden, was mit Waldas Leuten passiert war.
Doch Nala war die Geduld in Person, stellte stets die richtigen Fragen, spürte intuitiv, wann sie Walda bedrängen und wann in Ruhe lassen musste, und nach und nach entschlüsselte sich ihnen die ganze Geschichte: Vor einem Jahr hatte sein Dorf alles, was es zum Überleben brauchte, zusammengepackt und war losgezogen. Im Herbst waren sie in eine hügelige Landschaft gekommen, die reich an Wild war. Dort fanden sie ein verlassenes Dorf vor. Sie beschlossen, sich für den Winter niederzulassen. Es war hart geworden, aber weniger schlimm, als sie befürchtet hatten. Sie waren im Frühling zwar geschwächt, aber immerhin hatten die meisten überlebt.
Es geschah an dem Tag, als sie weiterziehen wollten. Sie hatten gerade alles gepackt und auf die Pferde verladen. In dem Moment ging ein Pfeilregen auf sie nieder und Furcht erregende Gestalten tauchten auf. Ihre Gesichter waren schwarz bemalt, und um den Hals trugen sie Ketten, an denen Knochen baumelten. Wild schreiend und Äxte schwingend töteten sie alle, die ihnen nicht ausweichen konnten. Sie beendeten ihr Gemetzel auch nicht, als die Dörfler mit nichts als den Kleidern auf dem Leib in die Wälder flohen, sondern setzten jedem einzelnen nach und erschlugen einen nach dem andern.
Walda hatte zum Zeitpunkt des Überfalls bereits aufgesattelt, da er den Weiterweg erkunden wollte. Als einer der ersten wurde er von einem Pfeil getroffen. Sein Pferd scheuchte und stob davon, und bis er es wieder unter Kontrolle hatte, waren die meisten seiner Freunde schon tot oder davongerannt. Schliesslich entdeckten die Barbaren auch ihn und setzten ihm nach.
Er floh. Acht Tage und Nächte ritt er fast ohne Unterlass, auch als er schon lange nicht mehr verfolgt wurde. Er ernährte sich von dem Wenigen, das er in der Satteltasche mit sich führte und schlief in den Nächten kaum. Als er an den Fluss kam, fiel er total entkräftet vom Pferd, welches durchbrannte, sobald er die Zügel losgelassen hatte. Dort blieb er liegen, bis Karo ihn fand.
Als er geendet hatte, war Walda völlig ausgelaugt. Sein Blick richtete sich ins Leere und seine Augen füllten sich wieder mit Tränen. Dann begann sein ganzer Körper zu beben, und er musste hemmungslos weinen. Nala schloss ihn in ihre Arme und hielt ihn fest.
Eine Weile blieb Karo unschlüssig auf dem Bett sitzen. Dann ging er nach nebenan und liess sich am Tisch nieder. Er legte den Kopf in die Armbeuge und schloss die Augen. Wieder und wieder sah er die schwarzen Reiter, wie sie ins Lager einfielen. Nur waren es jetzt keine Fremden mehr, die abgeschlachtet wurden, sondern seine eigenen Leute.
Nach dem Mittagessen wurden alle Dorfbewohner auf den offenen Platz zwischen den Hütten gerufen. Die Sonne schien, und ein lauer Wind strich über die Dächer. Als sich alle in einem weiten Kreis niedergelassen hatten, trat Boro gemessenen Schrittes in die Mitte.
„Es ist nun bereits das dritte Mal, dass wir in dieser Sache debattieren“, hob er an. „Heute müssen wir zu einer Einigung kommen, denkt daran. Hört den anderen zu, wägt die Argumente gut ab. Wenn ihr alle bloss auf euren Meinungen beharrt, dann sitzen wir im Sommer noch hier.“ Langsam drehte er sich im Kreis und schaute die Anwesenden eindringlich an. Von irgendwo erklang ein nervöses Lachen.
Überraschend behände drehte Boro sich um und stiess seinen Zeigefinger in Richtung des Übeltäters, als wolle er ihn aufspiessen. „Du findest das lustig? Du denkst, die Uneinigkeit spiele dir in die Hände, weil du bleiben willst? Ich sage dir: Das Lachen wird dir schneller vergehen als du glaubst. Ihr alle wisst, dass wir Alten der Meinung sind, dass unser Dorf hier keine Zukunft hat. Ihr müsst uns natürlich nicht folgen, ihr könnt auch denken, dass wir hier sicherer sind als da draussen. Aber eines muss euch klar sein: Uneinigkeit ist das grösste Gift für unsere Gemeinschaft. Geht also vorsichtig um mit euren Worten. Versucht zu verstehen.“
Dann wandte er sich an die Jungen: „Ich setze grosse Hoffnungen in Euch. Das ist auch der Grund, warum wir mit einer Tradition gebrochen haben, die so alt ist wie unser Dorf selbst, und euch in den Kreis geladen haben. Aber ich warne Euch“, fuhr er mit gespielter Strenge fort. „Erweist euch dieser Ehre als würdig und argumentiert klug.“ Und mit einem kritischen Rundblick in die Versammlung: „Oder zumindest klüger als eure Eltern.“
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