An diesem Morgen war Aru nicht wie sonst üblich vor dem Haus anzutreffen, wo er normalerweise keine Gelegenheit ausliess, um mit allen, die ihre Milch holten, einen ausgiebigen Schwatz zu halten. Karo wollte sich schon Sorgen machen, doch dann sah er durch die Tür, deren obere Hälfte offen war, dass der alte Mann mit der Familie seines einzigen Sohnes beim Frühstück sass. Karo beschloss, sie nicht zu stören und schöpfte mit einer hölzernen Kelle Milch aus dem Fass in seinen Krug.
Er wollte gerade wieder heimgehen, als er den Alten nach ihm rufen hörte. Er drehte sich um und trat an die halb geöffnete Tür. Aru musterte ihn lang und ernst. „Heute geht ihr nicht fischen“, sagte er dann. „Sag das den andern.“
Nachdenklich ging Karo heim. Was das wohl zu bedeuten hatte?
Als er das Haus betrat, war seine Mutter schon dabei, Teigfladen zu bereiten. Dazu wallte sie eine Knetmasse aus Wasser, Mehl und ein wenig Salz dünn aus und legte sie anschliessend auf das eingefettete Ofenblech. Kiri, Karos jüngster Bruder, ging ihr dabei zur Hand, aber so wie er mit Mehl eingestäubt war, bezweifelte Karo, dass er eine grosse Hilfe war.
„Aru meinte, wir sollen heute nicht zum Fluss gehen“, sagte Karo.
Seine Mutter schaute ihn nur an und zeigte dieses verschmitzte Lächeln, das sie immer aufsetzte, wenn sie ein gutes Geheimnis kannte.
Karo stellte die Milch auf den Ofen und sagte nichts mehr. Er wusste, dass seine Mutter den Mund nur dann aufmachen würde, wenn ihr danach zumute war. Während sie die fertigen Fladen in ein Tuch einschlug und die zweite Ladung auf die Platte legte, betrachtete sie ihn immer wieder schmunzelnd von der Seite. Schliesslich hatte sie ein Einsehen und sagte: „Ihr seid heute bei der Versammlung dabei. Das haben wir gestern Nacht entschieden. Euch Junge betrifft diese Sache mehr als alle anderen.“
Karo wurde ganz aufgeregt und wollte aus dem Haus stürmen, um den andern Bescheid zu sagen, doch seine Mutter hielt ihn zurück.
„Ich muss es den anderen sagen. Aru hat gesagt ....“.
Seine Mutter lachte. „Du solltest Aru und seine Scherze langsam kennen. Sicher hat er allen, die die Milch holten, genau das gleiche erzählt und freut sich nun diebisch, dass die Jungen im Dorf durcheinanderrennen wie die Hühner, wenn der Fuchs im Stall ist.“
Also blieb Karo zu Hause, auch wenn es ihn innerlich fast zerriss. Er stellte den Honig und die Trinkschalen auf den Tisch und versuchte dabei, einen möglichst gelassenen Eindruck zu machen.
Nun wachten auch die letzten Familienmitglieder nach und nach auf. Zuerst seine nur ein Jahr jüngere Schwester Vira, die sich wie jeden Morgen mürrisch nach draussen verzog, um sich die langen Haare zu kämmen, dann Hako. In dem Moment, in dem er aufstand, war es um die Ruhe in der Hütte geschehen. Er sprang regelrecht aus dem Bett und bombardierte alle mit seinen Albernheiten. Seine Mutter sagte immer, er öffne am Morgen den Mund, noch bevor er die Augen aufkriege. Das war zwar ein bisschen übertrieben, aber wirklich nur ein bisschen.
Dann stand auch Karos Vater auf. Er war nicht besonders gross und auch nicht besonders kräftig gebaut, aber seine Arme und Beine schienen nur aus Sehnen zu bestehen. Er war der geborene Jäger: geschmeidig, zäh und unendlich ausdauernd. Worte waren nicht seine Sache. So umarmte er seine Frau, die noch immer am Herd stand, nur von hinten und drückte ihr einen Kuss in den Nacken, und den Kindern fuhr er mit seiner schwieligen Hand durchs Haar. Vor Karo blieb er stehen, legte ihm die Hand auf die Schulter und schaute ihn lang mit einer Mischung aus Verwunderung und Stolz an. Karo wusste, dass diese Szene auf die meisten nichtssagend gewirkt hätte, aber ihm bedeutete sie sehr viel. So viel, dass er sich verlegen abwandte. Sein Vater war auch in seinen Gesten sparsam und effizient. Was er ihm jetzt zu verstehen gegeben hatte, war, dass er den Mann in Karo erwachen sah und dass ihm gefiel, was er sah.
Später, als sie alle am Tisch sassen und die dick mit Honig beschmierten, gerollten Teigfladen assen, verteilte Karos Vater die Arbeiten für den Vormittag, denn die Versammlung würde erst nach dem Mittagessen beginnen. Vira und Hako sollten mit ein paar anderen Kindern aus dem Dorf das Vieh auf die Ostweide treiben, und Karo sollte in der Sägegrube arbeiten.
Karo stöhnte auf. Die Sägegrube war das, was er von allen Arbeiten im Dorf am meisten hasste. Ausserdem wollte er brennend wissen, wie es Walda ging.
„Ich würde aber lieber nach dem Fremden schauen“, sagte er deshalb.
Schlagartig verstummten alle Geräusche am Tisch, und Karos Geschwister liessen den Blick nervös zwischen ihm und ihrem Vater hin- und hergleiten. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er einen Fehler gemacht hatte. Über zugeteilte Arbeiten, lernten alle im Dorf schon früh, wurde nicht diskutiert. Wenn nicht alle ihren Beitrag leisteten, hatte ihre kleine Gemeinschaft keine Überlebenschance.
Doch die erwartete Zurechtweisung blieb zur Überraschung aller am Tisch aus. Stattdessen sagte sein Vater nur: „Mach vorher die Kaninchen. Eins der Tiere kannst du dann Nala bringen.“ Karo nickte wortlos. Das war ja besser gegangen, als er erhofft hatte.
Nach dem Essen ging Karo nach draussen. Die drei Tiere, die er gestern erlegt hatte, waren bereits mit den Hinterläufen an eine Stange vor der Hütte gebunden. Jemand hatte an allen Kehlen einen tiefen Schnitt angesetzt, und die Körper waren schon vollständig ausgeblutet. Er zog die Klinge seines Messers über den Wetzstein, der immer auf einem kleinen Sims neben dem Eingang lag, und machte sich an die Arbeit. Zuerst schnitt er das Fell um die Hinterläufe auf, dann verlängerte er die Schnitte bis zur Afteröffnung. Mit Kraft begann er nun, das Fell vom Fleisch zu lösen. Als dies geschafft war, hielt er einen umgedrehten, innenseitig behaarten Schlauch in den Händen, von dem er die mit dem Messer die gröbsten Geweberückstände kratzte, bevor er ihn zum Trocknen aufspannte.
Jetzt öffnete er mit einem Schnitt die Bauchdecke des Kadavers und entnahm ihm die Innereien. Herz, Leber und Niere gab er in eine Schale, damit seine Mutter sie später kochen konnte, die Reste warf er neben die Hütte, wo die Hunde sie bald finden würden.
Als er alle drei Tiere ausgeweidet hatte, nahm er sie von der Stange und hackte ihnen mit dem Beil den Kopf ab. Jetzt musste er nur noch am nahen Brunnen die Bauchhöhlen auswaschen, und er war fertig.
Er trug zwei der Tiere und die Schale mit den Innereien nach drinnen und machte sich dann mit dem anderen auf den Weg zu Nala.
Der vordere Raum war leer. Also legte er das Kaninchen auf die hölzerne Anrichte neben dem Ofen und ging nach hinten durch. Walda sass, von Kissen gestützt, aufrecht im Bett. Es gelang ihm sogar ein Lächeln, als Karo das Zimmer betrat. Er war abgedeckt, und Nala war gerade dabei, die Wunde mit einer Tinktur abzutupfen. Walda verzog das Gesicht in stillem Schmerz, denn die Tinktur brannte höllisch. Karo sah, dass der entzündete Kreis um das Einschussloch schon merklich kleiner geworden war.
Als Nala ihn bemerkte, strahlte sie ihn an. „Hast du gewusst, dass Walda die gleiche Sprache spricht wie wir? Sie tönt nur anders.“
„Aha“, sagte er verständnislos. Dann, nach einem Moment des Nachdenkens: „Was ist denn daran gleich, wenn sie anders tönt?“
Nala lachte leise in sich hinein und beendete ihre Arbeit. Dann setzte sie zu einer Erklärung an: „Die Worte, die er benutzt, sind nicht völlig anders als unsere. Die meisten erinnern an unsere Sprache, verstehst du? Bein heisst Ben, Blut Blad und so weiter. Wenn wir uns anstrengen, können wir bald miteinander sprechen.“
Karo dachte an seine erste Begegnung mit Walda zurück und wurde ganz aufgeregt. Auch da hatte er einige Worte verstanden, auch wenn Walda kurz vor der Bewusstlosigkeit gestanden hatte und er selbst vor lauter Anspannung nicht mehr klar hatte denken können. Er wandte sich Walda zu, der ihre Unterhaltung aufmerksam mitverfolgt hatte.
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