„Doch, ich glaube, das ist den Meisten klar. Aber die Angst vor dem, was uns da draussen erwarten könnte, ist einfach noch grösser als die Angst, hier zu sterben. Das wird sich vermutlich erst ändern, wenn wir wieder einen wirklich schlimmen Winter erleben – oder zwei oder drei hintereinander.“
„Aber dann wird es zu spät sein“, sagte Karo. In diesem Moment tauchte der Gedanke wieder aus dem Dunkel seines Unterbewusstseins auf, und diesmal bekam er ihn zu fassen. Und – er war wirklich gut. Vor Aufregung sprang er auf. „Das ist es“, rief er und schlug sich mit der Faust in die offene Hand.
Matu starrte ihn entgeistert an. „Was ist was?“
„Die Lösung, wie wir unsere Leute dazu kriegen, spätestens im nächsten Jahr auf Wanderschaft zu gehen. Vielleicht sogar schon diesen Herbst!“
Inzwischen war es Abend geworden, und die Hochstimmung, die auch Matu erfasst hatte, nachdem ihm Karo seine Idee mitgeteilt hatte, war in tiefe Enttäuschung umgeschlagen. Boro hatte ihnen nicht einmal zugehört! Er hatte ihre Worte schon im Keim erstickt und sie zurück an die Arbeit geschickt. „Die Entscheidung ist gefallen“, hatte er gesagt, sich weggedreht und die beiden allein im wieder stärker werdenden Schneeregen stehen gelassen.
Jetzt sassen sie bei Nala am Tisch. Die Heilerin stand am Herd und rührte in einer Pfanne, aus der es nach Kräutertee duftete. Walda hatte es sich auf dem Bett im Hauptraum bequem gemacht. Kissen in seinem Rücken stützten ihn, so dass er aufrecht sitzen konnte. Das verletzte Bein lag ausgestreckt auf der Decke, an der Wunde drückte ein wenig Blut durch den Verband. Noch immer waren seine Augen rot unterlaufen, und Karo fragte sich, ob das vom Fieber oder von der Trauer herrührte.
Matu streckte sich auf seinem Hocker und rieb sich mit beiden Händen das Kreuz. Nach Boros Abfuhr hatten sie den ganzen Tag hindurch wie die Berserker gearbeitet, um sich ihre Frustration vom Leib zu schwitzen. Doch es hatte nichts genützt. Zwar schmerzten sie nun sämtliche Glieder, aber die Zurückweisung war noch immer nicht vergessen.
„Ich verstehe immer noch nicht, warum sich Boro deine Idee nicht wenigstens angehört hat“, sagte Matu wohl zum hundertsten Mal an diesem Tag.
Nala zog die Pfanne von der Heizplatte und kam zu ihnen an den Tisch. „Was für eine Idee?“, fragte sie.
„Ach, Karo hatte einen Plan, wie wir vielleicht doch noch dieses Jahr in den Süden kommen könnten. Oder spätestens nächstes Jahr.“
„Das tönt interessant. Erzähl weiter.“
„Eigentlich ist es ganz einleuchtend“, holte Matu aus. „Wir müssten nur einen Erkundungstrupp losschicken. Wenn der Weg in den Süden einfach ist, dann ist dieser vielleicht schon wieder zurück, bevor der Sommer richtig da ist, und wir könnten noch dieses Jahr auf Wanderschaft gehen. Und wenn der Weg beschwerlicher ist, … nun, dann haben sie bis zum Herbst Zeit, einen Übergang über die Berge zu finden. Und wenn es keinen gangbaren Übergang über die Berge gibt, dann ist es immer noch besser, das zu wissen, als jedes Jahr von neuem darüber zu diskutieren, ob wir nun aufbrechen wollen oder nicht.“
Erwartungsvoll schaute er Nala an. Diese schwieg lange. Schliesslich sagte sie: „Das ist wirklich eine gute Idee. Und was hat Boro genau dazu gesagt?“
„Ach, er hat uns nicht einmal angehört“, antwortete Matu und schüttelte den Kopf. „Er hat gesagt, das Volk habe entschieden, und uns weggeschickt. Ich hätte nicht übel Lust, selber auf Erkundung zu gehen.“
Karo schaute erstaunt auf. Auf diese Idee war er noch gar nicht gekommen. Nala sagte kein Wort und blickte den beiden Jungen abwechslungsweise ins Gesicht. Dann stand sie vom Tisch auf, ging zum Eingang und drehte sich noch einmal um. Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, und sie sagte: „Ich will kein Wort davon hören.“ Dann wandte sie sich ab und verschwand nach draussen.
„Was war denn das?“, fragte Matu konsterniert, nachdem Nalas Schritte auf dem Platz verklungen waren. „Zuerst findet sie unsere Idee gut, dann wieder schlecht? Da soll noch einer die Erwachsenen verstehen.“
Karo zuckte nur müde die Schultern. Er hatte schlicht keine Lust mehr, darüber nachzudenken.
„Ihr nicht richtig zuhören“, liess sich nun Walda vom Bett aus vernehmen.
Matu drehte sich zu ihm um. „Ach ja? Wir verstehen Nala also nicht? Und du, der nicht einmal unsere Sprache richtig sprechen kann, willst wissen, was sie meint?“, höhnte er.
Entweder verstand Walda den bissigen Spott nicht, oder er liess sich nichts anmerken. „Sie nicht sagen, ihr nicht gehen“, antwortete er ruhig. „Sie nur nicht wollen … ah … wissen.“
Matu wollte schon zu einer weiteren Bemerkung ansetzen, doch Karo unterbrach ihn, indem er ihm die Hand auf den Arm legte. „Ich denke, Walda hat Recht“, sagte er. „Erinnerst du dich? Du hast doch gesagt, am liebsten würdest du selber in den Süden gehen, und genau in dem Moment steht sie auf, lächelt, sagt, sie wolle kein Wort davon hören, und geht hinaus. Vielleicht will sie ja wirklich, dass wir gehen.“
Man sah förmlich, wie es in Matus Kopf arbeitete. Schliesslich verzog er zweifelnd das Gesicht. „Und warum kann sie nicht geradeheraus sagen, was sie denkt?“, fragte er.
„Weil sie eine Erwachsene ist, du Höhlenbewohner. Sie kann doch unmöglich dem Ältesten in den Rücken fallen. Aber sie hätte nichts dagegen, wenn wir gingen, da bin ich mir fast sicher.“
„Und was heisst das jetzt für uns?“
Das, dachte Karo, ist die entscheidende Frage. Ich gäbe viel für eine Antwort darauf.
In den folgenden Tagen blieb das Wetter nasskalt und es gab für Alle wenig zu tun. So blieb Karo viel freie Zeit, die er zum grössten Teil bei Walda verbrachte. Noch immer traf er den Fremden oft in Trauer versunken an, doch sobald Karo in der Hütte auftauchte, setzte er eine gezwungen heitere Miene auf und liess sich bereitwillig in ein Gespräch verwickeln. Täglich wurden seine Sprachkenntnisse besser, lediglich seinen schweren Akzent konnte er nicht ganz ablegen. Auch Matu besuchte sie, wann immer er im Unterdorf abkömmlich war.
Ihr Eindruck, dass Nala es begrüssen würde, wenn sie sich zur Reise in den Süden entschlössen, verdichtete sich immer mehr zur Gewissheit. Immer wenn ihr Gespräch eine Wendung in diese Richtung nahm, stand sie auf, verschwand im Nebenraum und klapperte auffällig laut mit irgendwelchen Töpfen. Sie äusserte sich zwar nie zum Thema, aber wie sie das machte, war schon sehr auffällig.
Endgültige Sicherheit erhielt Karo, als ihn die Heilerin eines Abends am Südtor abfing und ihm einen grossen Lederbeutel in die Hand drückte. „Hier“, sagte sie.
Neugierig öffnete er den Beutel. Darin befanden sich etwa ein halbes Dutzend verschlossene Tontöpfchen und ebenso viele kleine Stoffsäckchen, die leicht knisterten, als er in den Beutel griff. „Medizin“, beantwortete Nala seinen fragenden Blick. „Grosse Jungs wie du entfernen sich ja gern einmal von ihrem Dorf, und dann bist du unter Umständen froh darüber.“ Anschliessend setzten sie sich an die Aussenmauer der Dorfumfriedung unter einen Vorsprung, der sie vor dem Nieselregen schützte, und Nala erklärte ihm in aller Ruhe die Anwendung der verschiedenen Arzneien. Auch wenn sie dabei kein Wort über den Süden verlor, so war Karo doch, als hätten sie in diesem Moment einen Pakt geschlossen.
Am nächsten Tag waren Karo und Matu zum Ziegenhüten eingeteilt. Sie trieben die Tiere auf der Nachtkoppel zusammen und führten die kleine Herde dann gemächlich auf einen nahen, noch nicht abgeweideten Hügel. Noch immer war es kalt, doch immerhin regnete es nicht mehr.
Während sie am Waldrand sassen und den Tieren beim Grasen zusahen, plapperte Matu wie üblich munter drauflos. Er erzählte davon, dass das Unterdorf sich entschieden habe, nach der Aussaat ins Hauptdorf umzuziehen, dass seine grosse Schwester dann mit Lomo, dem Enkel von Boro zusammenziehen wolle und dass ihm selber Vira, die Schwester von Karo, sehr gefalle. „Ich glaube, ich gefalle ihr auch. Auf jeden Fall lächelt sie immer und wird rot, wenn wir uns begegnen.“
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