Plötzlich entdeckt der 13-jährige Elias durch seine Handykamera Dinge, die mit bloßem Auge nicht zu sehen sind: ein Hochhaus mit flackernden Lichtern, das nie gebaut wurde. Flügelflossen, die aus dem Rücken einer Mitschülerin wachsen. Und Hörner auf seinem eigenen Kopf?
Er sucht nach Antworten – und stößt auf eine verborgene Parallelwelt voller schillernd bunter Schwellenwesen. Eine Welt, aus der Elias einen digitalen Hilferuf bekommen hat. Denn der ehrgeizige Herr der Spiegel droht die Zwischenwelt zu schwarzem Glas erstarren zu lassen …
Ein fantasievolles Leseabenteuer, das zeigt, wie viel im »Zwischen« verborgen ist
1 (K)ein Haus in der Dämmerung
2 In-Between
3 Im Labyrinth
4 koenigin@threshold.iz
5 Augen wie Spiegel
6 Im Vier-Winde-Haus
7 Es war einmal …
8 Aus der Tiefe
9 Hinter den Schleiern
10 Durch die Salamanderkeller
11 Graffiti
12 Der Verbotene Park
13 Ein einsamer Pirscher
14 Hörner
15 Das Neue Zwischen
16 Herolde der Schwelle
17 Große Pläne
18 Die gläserne Festung
19 Der Spiegel des Zagreus
20 Ewige Geborgenheit
21 Spiegel und Schwelle
22 Nur eine Scherbe
23 Auf neuen Pfaden
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(K)ein Haus in der Dämmerung
Kann man ein Foto von etwas machen, das es gar nicht gibt?
Elias hatte vor, genau das herauszufinden.
Er hockte im Schneidersitz auf einem kiesbedeckten Flachdach, von dem aus er gut über die Hinterhöfe des Viertels schauen konnte. Hier war sein Lieblingsplatz, der perfekte Ort, um allein zu sein und in die Dämmerung zu starren. Elias war stolz darauf, ihn entdeckt zu haben.
Das war nicht einfach gewesen. Man musste sich auf eine Garage hochziehen und anschließend eine rostige Feuerleiter hinaufklettern, die in einem dunklen Winkel verborgen lag. Der Weg war umständlich, aber dafür hatte er hier oben auf dem Dach garantiert seine Ruhe. Und die konnte er gerade wirklich gebrauchen.
Elias zog seine Knie enger an den Körper, holte sein Handy aus der Tasche und öffnete die Kamera-App. In den Häusern ringsum gingen die ersten Lichter an. Ein bisschen würde er noch warten müssen. Er ließ seinen Blick über den Hof direkt unter sich schweifen. Dieser war von Balkonen umgeben, die nicht besonders ordentlich aussahen. Klar, sie schauten ja auch nicht zur Straße, wo die Leute gucken konnten. Auf manchen Balkonen wurden Kisten und Gerümpel gelagert, Kinderwagen und ein alter Katzen-Kratzbaum, daneben übervolle Wäscheständer. Andere sollten offenbar ein kleines Naturparadies imitieren, zugewuchert von Topfpflanzen und vollgestellt mit Gartenzwergen und Plastik-Störchen. Elias war sich nicht sicher, was er hässlicher fand.
Er schaute lieber wieder hoch, dorthin, wo der Herbsthimmel hellgrau über den Häusern hing. Elias nahm sein Handy quer zwischen die Hände und fokussierte den Bereich im Display, wo die Dachkanten an den Himmel stießen. Dann drückte er ab. Zur Sicherheit gleich dreimal.
Anschließend betrachtete er seine Fotos in Ruhe. Sie sahen alle gleich aus: graue Flächen, bei denen ganz unten die Dächer als rot-brauner Rand zu erahnen waren. Nichts Interessantes. Nicht einmal ein Vogel. Aber Elias wusste, was er tat. Diese Fotos waren nur als Vergleich gedacht. Das eigentliche Motiv kam erst noch.
Elias streckte die Beine aus und wartete. Die Dunkelheit kam schnell in dieser Jahreszeit. Unten gingen immer mehr Lichter an. Es war kalt, aber er trug eine gut gefütterte Jacke. Außerdem fror er nicht so leicht. Und hier oben, in der Dämmerung auf dem Dach, war es immer noch gemütlicher als zu Hause. Dort packte jetzt sein Vater vielleicht schon seinen Kram zusammen. Oder er stritt mit seiner Mutter herum. Oder sie schwiegen sich an. Nein danke. Hier oben war es besser.
Langsam wurde es richtig dunkel. In den Straßen leuchteten die Laternen. Elias beugte sich gespannt vor und machte sein Handy bereit. Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern.
Da! Drüben, jenseits der Dachkanten, gingen weitere Lichter an. Es war eine Reihe von mattleuchtenden Quadraten, sauber übereinandergestapelt. Wie die Fenster im Treppenhaus eines Hochhauses. Links und rechts davon leuchteten jetzt kleinere Rechtecke auf. Die Fenster der Wohnungen, zu denen das zentrale Treppenhaus führte.
Ganz oben, über dem höchsten Quadrat, erschien leicht verzögert noch eine leuchtende Linie. Sie war blau und seltsam geformt: wie ein umgedrehtes Hufeisen, vielleicht auch ein Torbogen. Vermutlich war es eine Art Schild oder Leuchtreklame.
Dann wurde es wirklich abgedreht: Rund um die Fenster begannen leuchtende Nebel durch die Dunkelheit zu tanzen. Manche schimmerten grünlich, andere blassblau oder rot. Elias hatte keine Ahnung, was das sein sollte. Die schimmernden Nebel sahen unwirklich aus. »Nordlichter« war das Wort, das ihm dafür am ehesten einfiel. Natürlich war das Quatsch. Er war mitten in der Stadt und nicht am Nordpol.
Mit zitternden Fingern hielt Elias sein Handy hoch und machte eines der Fotos von eben auf. Darauf war nichts als grauer Himmel zu sehen. Kein Hochhaus, kein Turm, kein Funkmast. Schon gar keine Lichterscheinungen.
»Das gibt es nicht!«, murmelte er. Die beleuchteten Fenster dort drüben stammten von einem Haus, das nicht da war. Jedenfalls nicht im Hellen.
»Und jetzt kommt der Beweis!«, flüsterte Elias aufgeregt und stellte wieder die Aufnahmefunktion ein. Er achtete darauf, dass er die Hände genauso hielt, wie er es eben bei den ersten Fotos gemacht hatte. Vielleicht sollte er das nächste Mal ein Stativ mitbringen. Papa hatte eines bei seinen Foto-Sachen. Ob die schon verpackt waren? Egal.
Elias konzentrierte sich auf das Handy-Display, das jetzt die Lichter jenseits der Dächer anzeigte. Dann drückte er ab, wieder dreimal. Neugierig tippte er auf dem Handy herum, um sich die Bilder möglichst rasch anzusehen. Enttäuscht ließ er die Hand sinken. Sie waren nicht gelungen: einfach nur schwarz. Erst dachte er, dass diese Schwärze reiner Datenmüll war. Dann entdeckte er unten, in der Bild-Ecke, den Schimmer einer Straßenlaterne.
Elias bekam ein flaues Gefühl im Bauch. Die Bilder waren doch etwas geworden – aber sie bildeten einfach nur den schwarzen Abendhimmel ab. Ohne das Haus in der Ferne. Weder die Rechtecke der Fenster waren zu sehen noch die tanzenden Leuchtnebel.
»Das glaub ich jetzt wirklich nicht«, flüsterte er.
Elias richtete das Handy auf eines der anderen Häuser im Viertel. Wieder drei Fotos. Dann prüfte er die Aufnahmen. Sie waren nicht gerade scharf und zeigten verwaschene Vierecke aus Licht. Aber es war auf jeden Fall etwas darauf zu erkennen! Am Handy lag es nicht.
Dann wandte er sich wieder den merkwürdigen Lichtern zu und zoomte sie ganz dicht heran. Als er zum dritten Mal abdrückte, flatterte irgendetwas quer über sein Display. Elias zuckte zurück. Er senkte das Handy und schaute sich misstrauisch um. Nichts. Wahrscheinlich nur ein verspäteter Vogel. Mit gerunzelter Stirn sah er sich die Fotos an. Das Display zeigte ausschließlich Schwärze. Kein vorbeiflatterndes Tier. Keine Lichter.
»Und was nun?«, fragte Elias sich selbst. Was machte man mit einem von tanzenden Lichtern umschwirrten Haus, das gar nicht da war? Zur Polizei gehen und ein paar schwarze und graue Handy-Fotos vorzeigen, damit sie das Haus verhaften konnten? Oder die Story ins Internet stellen und darauf warten, dass ihm irgendein Spinner erklärte, er hätte da einen Ufo-Landeplatz gefunden? Hmm. Er könnte natürlich auch seine Eltern darauf ansprechen. Aber das war die absurdeste Idee von allen.
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