Der ältere Herr sprang auf, aber er konnte seinen Enkel nicht erreichen und stand ratlos am Beckenrand. Da kam ein Schiffsarbeiter in einem blauen Overall dazu. Er griff nach einer langen Stange, die am Beckenrand lag, und hielt sie dem Jungen hin. Der klammerte sich mit aller Kraft daran fest, und nach einigem Ziehen und Zerren kam er schließlich frei. Der Mann dankte dem Arbeiter, packte seinen Enkel am Ellenbogen und zog ihn schimpfend hinter sich her zurück zum Tisch.
***
„Jungs, kippt ab!“, kam es da laut vom Nachbartisch.
Gerlinde schrak zusammen. Eine Gruppe von sechs Männern hatte sich dort niedergelassen. Die roten Gesichter und die stattliche Anzahl leerer Biergläser ließen darauf schließen, dass sie schon seit einer ganzen Weile ihren Urlaubsbeginn feierten. Sie lächelte nachsichtig, vermutlich war das ein Kegelclub auf seinem jährlichen Ausflug.
Petra fand das nicht so amüsant und verzog das Gesicht. „Einfach ekelhaft, wie die sich benehmen“, kommentierte sie keineswegs leise und drehte sich kampflustig zu der Gruppe um.
Das verstand einer der Zecher wohl falsch. Er zwinkerte ihr zu und hob sein Glas. „Schöne Frau, wollen Sie sich nicht zu uns setzen? Sie sind genau das, was mir der Arzt verordnet hat.“
Gerlinde hielt die Luft an, aber Petra wusste diesen plumpen Annäherungsversuch gut zu kontern. „Hättste wohl gern“, krähte sie und drehte ihm den Rücken zu. Sie beugte sich zu Gerlinde. „So ein Prolet! Überhaupt kein Stil“, schimpfte sie und sog aufgebracht an ihrem Strohhalm. In Nullkommanichts war das Glas leer.
Gerlindes Magen knurrte. Seit dem Frühstück und einem Imbiss im Flugzeug hatte sie nichts mehr gegessen, und das lag nun schon viele Stunden zurück. Sie hatte Hunger. Und sie stellte fest, dass in diesem süffigen Cocktail doch einiges an Alkohol gewesen sein musste. Jedenfalls hatte sie das Gefühl, dass ihre Umgebung leicht schwankte, und ihr Blick war seltsam unscharf. Es war ein durchaus angenehmes Gefühl, aber trotzdem sollte sie möglichst bald etwas essen. Jemand marschierte an ihr vorbei, einen Teller mit einer Currywurst und Pommes Frites in der Hand. Suchend schaute sie sich um und entdeckte eine lange Menschenschlange vor einer Theke, hinter der ein paar Angestellte herumwerkelten. Das wäre jetzt genau das Richtige! Doch während sie noch überlegte, ob sie sich dort anstellen sollte, kam eine Lautsprecherdurchsage. „Liebe Gäste, die Kabinen sind jetzt bereit für Sie. Wir bedanken uns für Ihre Geduld.“
Sofort sprang Petra auf. „Na endlich, das wurde aber auch Zeit.“ Sie drückte Gerlinde ein paar Kleidungsstücke in die Hand und griff nach ihrer Lacktasche. „Es geht los.“
Gerlinde atmete auf. Nun würde sie bald diesen Kleiderberg loswerden.
Die Menschenmenge schob sich vom Sonnendeck in die Treppenhäuser. Verwirrt schaute sich Gerlinde um, sie hatte völlig die Orientierung verloren. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich wieder einmal an Petras Fersen zu heften, die offenbar genau wusste, in welche Richtig sie zu gehen hatten.
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An der Rezeption standen die Leute in Dreierreihen. Geduldig wartete der groß gewachsene, schlanke Mann, bis er endlich an der Reihe war. „Mein Name ist Werner Velten. Ich fahre als Gentleman Host mit. Mein erstes Mal“, fügte er mit einem kleinen Lächeln hinzu.
Die Dame hinter dem Tresen schaute hoch. „Willkommen an Bord“, begrüßte sie ihn. Sie tippte auf ihrem Computer herum. „Ah, da haben wir Sie.“
Sie musterte ihn jetzt mit unverhohlener Neugier. „Der Staff Captain erwartet Sie schon in seinem Büro. Das ist direkt über der Offiziersmesse. Gehen Sie am besten gleich hin.“ Sie nahm einen Bordplan zur Hand und erklärte ihm den Weg.
Werner bedankte sich und marschierte los. Das kleine Faltblatt zitterte in seiner Hand. Außer Sichtweite der Rezeption blieb er stehen und holte erst einmal tief Luft. Es war eine einfache Sache gewesen, sich zu Hause das Anheuern auf einem Schiff auszumalen. Aber nun galt es, die ersten Schritte auf diesem ihm unbekannten Terrain zu machen. Und das gestaltete sich aufregender, als er gedacht hatte.
Langsam schlenderte er weiter und betrachtete aufmerksam seine neue Umgebung. Hier würde er nun die nächsten Wochen verbringen, sich zwischen den Gästen bewegen und insbesondere die Damen zu unterhalten haben. Das Publikum entsprach durchaus seinen Vorstellungen. Er war darauf gefasst, vorwiegend ältere Reisende anzutreffen, und wenn er sich so umschaute, passte er mit seinen fünfundsechzig Jahren bestens dazu.
Fast hätte er vor lauter Schauen die unauffällige Tür übersehen, die in den Mannschaftsbereich des Schiffes führte. Er drückte die Klinke herunter und stellte kurz darauf fest, dass er sich in einer völlig anderen Welt befand.
Der Übergang von den leuchtenden Farben und dem modernen Design des Passagierbereichs zu dem schmucklosen, grau gestrichenen Treppenhaus war krass. Aber so war das nun einmal, wenn man hinter die Kulissen schaute. In seinem neuen Job bewegte er sich ganz klar in zwei verschiedenen Welten. Er studierte den Plan, der an der Wand angebracht war. Die Offiziersmesse befand sich auf Deck Zwei, tief unten im Bauch des Schiffes. Und das Büro des Staff Captains lag fast direkt darüber. Seine Schritte hallten auf der Metalltreppe, die von schmucklosen Neonröhren grell ausgeleuchtet wurde.
„Sie sind bestimmt Herr Velten.“ Der kräftig gebaute Mann in Uniform und mit akkuratem Bürstenhaarschnitt stand auf und streckte Werner die Hand entgegen. Er hatte eine stattliche Größe, und alles an ihm war rund. Werner betrachtete interessiert das Gesicht mit den kleinen, fast zierlichen Ohren, die fülligen Oberarme, die die Ärmel seines Hemdes zur Gänze ausfüllten, und den Bauch, der eindeutig nicht von harter Askese herrührte. Der Mann strömte Behaglichkeit aus. Wie ein zu groß geratener Teddybär hatte er etwas Kuscheliges an sich, wozu nur die strenge Frisur nicht recht passen wollte.
„Ja, ganz recht, Herr…?“ Werner schaute seinen neuen Vorgesetzten fragend an.
„Blank, Stefan Blank“, stellte der sich vor. „Ich bin der Staff Captain hier an Bord und verantwortlich für das gesamte Personal.“
Scharfe Augen musterten ihn von oben bis unten, und Werner fragte sich, ob er mit Jeans und Pullover nicht zu leger gekleidet war. Aber offenbar war der erste Eindruck okay, denn Blank lächelte zufrieden. „Nehmen Sie Platz. Wir gehen kurz die wichtigsten Punkte durch, die Ihren Job betreffen. Danach können Sie sich erst mal häuslich einrichten.“
Werner erinnerte sich sehr genau an die Stellenbeschreibung in der Zeitung. Gute Umgangsformen, gewandtes Auftreten, Kenntnisse in allen gängigen Gesellschaftstänzen, sehr viel mehr war der Anzeige nicht zu entnehmen gewesen. Immerhin, diese Voraussetzungen erfüllte er, so dass er nach dem üblichen Papierkram und einigen Telefonaten mit der Reederei eine Zusage bekommen hatte.
Der Offizier lehnte sich entspannt in seinem Sessel zurück und faltete die Hände hinter dem Kopf zusammen.
„Wir haben hier an Bord immer einen gewissen Prozentsatz allein reisender Frauen. Das liegt wohl in der Natur der Sache, die Damen sind einfach zäher als wir Männer.“ Blank lachte über seinen eigenen Witz, und Werner lächelte pflichtschuldigst mit. „Seit einem Jahr haben wir nun die Gentleman Hosts eingeführt, und ich muss sagen, mit gutem Erfolg. Ich muss wohl nicht extra betonen, dass dieser Job nicht immer einfach ist. Manche Damen verwechseln unsere Hosts mit einer ganz anderen Sorte Dienstleister, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
Er zog fragend eine Augenbraue hoch, und Werner beeilte sich zu nicken.
Zufrieden dozierte Blank weiter. „Nun, das genau ist der kritische Punkt. Ihre Aufgabe ist es, für gute Laune zu sorgen. Allerdings endet Ihr Job vor der Kabinentür der jeweiligen Damen. Um es ganz deutlich zu sagen, wir möchten nicht, dass Sie irgendwelche privaten Kontakte pflegen, die über den gesellschaftlichen Rahmen hinausgehen. Vielleicht erstaunt Sie meine Direktheit, aber das ist die oberste Regel, von der es keine Ausnahme gibt.“
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