Energisch wand sich Lothar aus dem Griff heraus und zupfte sein Jackett wieder in Form. „Wir sind doch nur Preishengste, das ist alles, was wir sind. Und das weißt du genau. Ausgenutzt werden wir von den Weibern, ganz gnadenlos. Erst machen sie dich an, und dann lassen sie dich eiskalt abblitzen.“ Er sackte in sich zusammen und starrte vor sich auf den Tisch.
Werner verschlug es die Sprache, und auch Kalli blieb einen Moment stumm. „Das ist doch alles Quatsch“, versuchte er, seinen Kumpel zu beruhigen. „Reiß dich gefälligst zusammen! Die meisten sind schon ganz in Ordnung.“
Lothar reagierte nicht.
Werner lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Seine neuen Kollegen benahmen sich ja äußerst seltsam. Worauf hatte er sich da nur eingelassen? Peinlich berührt stand er auf. „Ich muss jetzt erst mal meine Sachen auspacken“, murmelte er, nahm seine leere Kaffeetasse und ging zum Tresen, wo er einen Korb für gebrauchtes Geschirr gesehen hatte. Er war so durcheinander, dass er fast mit einem jungen Offizier in weißer Uniform zusammengestoßen wäre.
„Entschuldigung.“
Der maß ihn mit einem skeptischen Blick. „Neu hier?“
„Ja. Mein Name ist Werner Velten. Ich bin Gentleman Host.“
Der junge Mann verzog geringschätzig die Mundwinkel. „Ja, das habe ich mir schon gedacht.“
***
Daniel hopste fröhlich voraus durch den Gang. Schwer bepackt mit ihrer großen Handtasche und dem Rucksack ihres Enkels wankte Ursel Wagner hinterher. Was hatte dieser Junge bloß alles mitgenommen! Das Ding wog so viel, als habe Daniel sein halbes Kinderzimmer dabei. Sie hörte Felix keuchen. Zum wiederholten Mal knallte der große Trolley, den er hinter sich her zog, gegen eine Wand. Mit der anderen Hand balancierte er einen ganzen Berg Jacken und Anoraks, was sein Gesichtsfeld erheblich einschränkte. „Ist es noch weit?“, stieß er hervor.
„Opa, hier! Acht-Null-Drei-Vier.“ Der Junge, der als einziger nichts zu tragen hatte, war ein Stück weiter vor einer Tür stehen geblieben.
„Na Gott sein Dank. Diese langen Gänge sind ja schrecklich.“ Felix war die Erleichterung deutlich anzumerken.
Daniel drückte die Klinke herunter, aber es tat sich nichts. Die Bordkarte fiel ihm ein. Er fand den Schlitz zum Einstecken, fummelte mit dem Plastikkärtchen daran herum, und als sich die Tür immer noch nicht öffnen ließ, trat er ungeduldig dagegen. Dumpfe Schläge waren zu hören, aber die Tür bewegte sich nicht.
„Hey, hey!“, mahnte Felix.
Ursel war auch endlich angekommen und ließ Tasche und Rucksack auf den Boden sinken. „Gib mal her“, forderte sie. „Das muss man langsam machen, mit Gefühl.“ Sie steckte die Bordkarte ein und drückte die Klinke herunter. Die Tür war schwer, und Ursel musste sich ordentlich dagegen stemmen, um sie zu öffnen.
Sowie sich der erste Spalt im Türrahmen zeigte, drängelte sich Daniel auch schon an ihr vorbei. Und blieb wie angewurzelt stehen. „Och!“, rief er enttäuscht.
Sie kam hinterher und schaute sich um. Na, wirklich groß war die Kabine nicht, aber sie würden schon zurechtkommen.
„Das ist ja winzig. Hier haben wir keinen Platz.“ Daniel hatte sich blitzschnell seine Meinung gebildet und war schon wieder auf dem Rückzug, der allerdings von Felix gestoppt wurde. An Trolley und Klamotten kam selbst ein schmächtiger Junge nicht vorbei.
„Hiergeblieben. Auf einem Schiff hat man nicht viel Platz, das ist nun mal so.“ Der Mann versuchte, dem Kind die Sachlage mit Vernunft beizubringen.
„Aber es gibt nur zwei Betten“, stellte Daniel fest, womit er Recht hatte. „Ausziehcouch“, schnaufte Felix, dem allmählich der Geduldsfaden riss. „Und jetzt mach mal Platz, damit ich die Sachen abstellen kann. Meine Arme schleifen schon auf dem Boden.“
Der Junge lachte bei dieser Vorstellung und warf sich mit Karacho auf das Bett, das näher am Fenster stand. „Das ist meins“, verkündete er.
Felix ließ den Jackenberg auf das andere Bett fallen und stellte den Trolley in den schmalen Gang dazwischen.
Endlich hatte auch Ursel eine Chance, ihr Gepäck loszuwerden. Sie reichte Daniel seinen Rucksack. „Was hast du da eigentlich alles mitgenommen? Es ist das reinste Wunder, dass sie uns mit diesem Handgepäck in den Flieger gelassen haben.“
Der Junge zuckte mit den Schultern. „Meine Sachen. Die brauche ich alle.“ Mehr gab es dazu nicht zu sagen.
„Hübsch“, stellte Ursel nach einem Rundblick fest. „Schöne, große Fenster.“
Das brachte Daniel gleich auf die nächste Idee. Er sprang auf und suchte nach einem Griff, um ein Fenster zu öffnen. Aber da war nichts. Verwirrt schaute er sich nach seiner Oma um.
„Hier gibt’s Klimaanlage, die Fenster gehen nicht auf.“ Im Tonfall von Felix lag eine deutliche Warnung, dass sein Geduldsfaden kurz vor dem Reißen war.
„Wieso haben wir keinen Balkon?“, wollte Daniel wissen.
„Weil wir sehr spät gebucht haben. Und weil wir da auch noch nicht wussten, dass du mitkommst“, kam es prompt zurück.
Ursel warf ihrem Mann einen warnenden Blick zu. Es hatte sie viel Überredungskunst gekostet, bis der Enkel schließlich mitfahren durfte. Mit Job und Haushalt und dazu diesem hyperaktiven Kind war ihre Tochter bis zum Anschlag gefordert, und eine Auszeit während der Ferien wäre eigentlich dringend nötig gewesen. Aber ihr Urlaub war kurzfristig wegen eines dringenden Projekts gestrichen worden. Und so wäre tagsüber niemand da gewesen, der auf das Kind hätte aufpassen können. Dass sich das alles erst im letzten Moment herausgestellt hatte, war natürlich sehr unglücklich.
Andere Großeltern wären begeistert, wenn sie mit ihren Enkeln verreisen könnten. So zumindest hatte Ursel es ihrem Felix ‚verkauft‘. Und es würde sicherlich der zarten Kinderseele schaden, wenn er erfuhr, dass man für ihn einfach einen Aufbewahrungsort gesucht hatte wie für ein unzustellbares Postpaket.
Stirnrunzelnd betrachtete sie die Couch, die zu einem Bett ausgezogen werden konnte. Felix würde ganz sicher nicht darauf schlafen wollen, also musste sie wohl in den sauren Apfel beißen. Denn ihr Liebling von Enkel hatte ja bereits seine Wahl getroffen, was die Schlafstätte betraf. Sie ließ sich auf die Couch plumpsen. Schon diese Anreise hatte sie völlig geschafft, und wenn sie ehrlich war, grauste es ihr, zwei ganze Wochen lang Daniel im Schlepptau zu haben. Nicht, dass sie ihn nicht lieb hatte, er war nur so… wie ein Gummiball, der einfach nicht zu bändigen war. Wenn sie an ihre eigene Kindheit dachte, sie wäre froh und glücklich gewesen über solch eine Kreuzfahrt und hätte mit der kleinsten Ecke vorliebgenommen. Nun ja, die Zeiten hatten sich geändert.
***
„Bitte begeben Sie sich zu Ihren Sammelstationen.“
Die Stimme aus dem Lautsprecher hatte einen beruhigenden Tonfall, als wolle sie jede aufkommende Panik schon im Keim ersticken. Gerlinde und Petra hatten ihre Rettungswesten angelegt und schoben sich nacheinander aus der plötzlich ziemlich engen Kabinentür.
„Das ist aber auch ein steifes Ding“, beschwerte sich Petra. „Da hätten die sich ruhig was Bequemeres einfallen lassen können.“
Gerlinde hörte nicht hin, sie hatte mit sich selbst genug zu tun. Seit der Alarmton losgegangen war, befand sie sich im Ausnahmezustand. Es war wie eine Art Tunnel, der sie direkt und unmittelbar zu einem Katastrophenszenario führte. Wie würde es sein, wenn das keine Übung wäre? Wenn tatsächlich das Schiff zu sinken drohte und sie sich jetzt auf den Weg zu ihrem Rettungsboot machten? Ein Schauder überlief sie. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, eine Kreuzfahrt zu machen? Ertrinken war sicher kein schöner Tod. Sie stellte sich vor, wie das salzig-bittere Wasser in ihren Mund schwappte. Ein paarmal würde sie es noch ausspucken, so lange, wie ihre Kräfte das zuließen. Aber irgendwann würde sie unweigerlich in die schwarze, kalte Tiefe hinabgleiten.
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